Mittwoch, 23. Juni 2010

Wieder mehr als 50 Tote in Pakistans Orakzai-Region - seit September 2009 mehr als 4000 Tote im Land


Bei einem Angriff von Militanten auf lokale Sicherheitskräfte wurden gestern in der nordwestlichen Region Orakzai in den pakistanischen Stammesgebieten fast 50 Menschen getötet. Vier paramilitärische Sicherheitskräfte wurden bei den Gefechten getötet, auf Seiten der Taliban-Kämpfer soll es mindestens 43 Tote gegeben haben. Bereits am Montag starben dreizehn Menschen bei schweren Gefechten ganz in der Nähe. Die pakistanische Armee versucht seit Monaten die Angriffe der Taliban in dem Gebiet zu reduzieren und es als Rückzugsort zu eliminieren. Mit der begonnenen Offensive Khwakh Ba De Shum ("Ich werde Dich sehen") wurden die Bemühungen intensiviert. 

Doch trotz aller Erfolgsmeldungen zeigen die andauernden Kämpfe, wie hilflos die Armee der Bedrohung an vielen Stellen gegenübersteht. Eine "Säuberung" eines Gebietes hat zur Folge, dass plötzlich in einer anderen Region die Gewalt zunimmt. So wurde zum Beispiel die Offensive im Swat-Tal als Erfolg gefeiert, doch viele Kämpfer sollen vor den Bomben der Armee in die Orakzai-Region geflohen sein. Auch militanten Kämpfern aus dem benachbarten Afghanistan soll das Gebiet als Rückzugsort und Sammelpunkt dienen. In den vergangenen Monaten wurden allein in dieser Region mehr als 700 Menschen getötet, die tatsächliche Zahl dürfte noch weit höher liegen. In ganz Pakistan, aber vor allem rund um Peshawar wurden seit September 2009 mehr als 4000 Menschen bei Anschlägen und Attacken getötet. Al Jazeera´s Riz Kahn fragt deshalb in seiner Runde vom 20. Juni, ob Pakistan, und im Speziellen die nordwestlichen Grenzgebiete die eigentliche Bedrohung für die gesamte Region ist:


Der Politikwissenschaftler Jochen Hippler schreibt in der Ausgabe vom 25. Mai Aus Politik und Zeitgeschichte zur Situation in Pakistan vor allem über die Rolle der staatlichen Sicherheitskräfte und externer Einflussfaktoren:
Die Situation der Instabilität und Gewalt in den Stammesgebieten entspringt zwei Quellen: Einerseits der eklatanten Schwäche an Staatlichkeit und dem daraus resultierenden politischen Vakuum, das durch die erwähnte Aushöhlung der Stammesstrukturen noch verstärkt und von den religiösen Extremisten gefüllt wird; und zweitens aus den Kriegen im benachbarten Afghanistan seit Ende der 1970er Jahre, die (a) den zuvor konservativen Islam politisierten und ihn dschihadistisch transformierten; (b) eine militärische Infrastruktur (Waffen, Logistik, bewaffnete Banden und extremistische Gruppen, etc.) schufen, die von den Aufständischen und den afghanischen Taliban und al-Qaida genutzt werden kann und ihnen günstige Operationsbedingungen bietet; (c) eine politische Mobilisierungsmöglichkeit gegen die ausländischen und „ungläubigen“ Truppen schufen und schaffen, die als Besatzer betrachtet werden; und (d) den Zustrom extremistischer afghanischer und ausländischer (arabischer, tschetschenischer, usbekischer) Extremisten, zur Folge hatten, die gut organisiert, schwer bewaffnet, ideologisch unnachgiebig und kampferfahren sind. Dazu kommt (e) die politisch mobilisierende Situation, dass die eigene Regierung an der Seite der verhassten USA gegen Pakistaner vorgeht – wodurch das eigene Militär in den Stammesgebieten als faktische Besatzungstruppe im Dienste einer fremden Macht betrachtet wird.

Im Zuge der eskalierenden Kämpfe und angeheizt durch die häufigen „Kollateralschäden“ an der eigenen Bevölkerung durch die Härte des pakistanischen Militärs und die Drohnenangriffe der USA weitete sich die Gewalt von den Stammesgebieten und der Nordwestprovinz auf andere Landesteile aus und nahm auch terroristische Formen an. 

Auf diese Weise wurde die ohnehin deformierte und teilweise schwache Staatlichkeit in Pakistan weiter geschwächt und die Legitimität des Staates zusätzlich untergraben, da er seine Bürger offensichtlich nicht schützen konnte. Auch die zunehmende Kooperation der aus den Stammesgebieten operierenden Aufständischen mit sunnitischen Extremisten und Dschihadisten aus dem Punjab (die ihr Operationsgebiet primär im indischen Teil Kaschmirs sahen) trug zur wachsenden Unsicherheit bei. Der Afghanistan-Krieg führt deshalb nicht allein zu beträchtlichem menschlichen Leiden, materiellen Zerstörungen und politischer Instabilität in Afghanistan selbst, sondern auch zur Schwächung Pakistans, zu zahlreichen Gewaltopfern und wachsender Instabilität. Heute sterben bereits mehr Menschen in Pakistan an politischer Gewalt und Kriegseinwirkung als in Afghanistan. Die Ansteckung Pakistans mit der politischen Gewalt erfolgt allerdings nicht primär durch den Krieg in Afghanistan als solchen, sondern sowohl historisch als auch aktuell durch die ausländische Rolle in diesem Krieg, zuerst durch die Sowjetunion, die USA und einige arabische Staaten (vor allem Saudi Arabiens), heute durch die der USA und NATO-Verbündeten.

Die ausländischen Truppen stellen dabei den wichtigsten Mobilisierungsfaktor dar. Eine Diskussion der westlichen Politik in Afghanistan wäre gut beraten, diese Wirkung im strategisch viel bedeutenderen Nachbarland einzubeziehen. Eine weitere Destabilisierung der fragilen Atommacht Pakistan in Kauf zu nehmen, um dem taktischen Ziel einer ohnehin kaum möglichen Abriegelung der Grenze zu Afghanistan näherzukommen, wäre ein strategischer Fehler mit unabsehbaren Folgen – der schließlich mit aller Macht auf den Krieg in Afghanistan zurückschlagen müsste.

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