Posts mit dem Label EU werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label EU werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Dienstag, 18. Februar 2020

Überwachungskapitalismus: It's really this generation's 'Das Kapital'


Die Sozialwissenschaftlerin Shoshana Zuboff stellt viele Fragen. Grundlegende Fragen

"Erhebungen und Analysen von Daten verändern die Funktionsweise von Wirtschaft. Aber sind diese Veränderungen so grundlegend, dass sie zur Entstehung einer neuen Form des Kapitalismus geführt haben – dem Überwachungskapitalismus? 

Wenn das Verhalten von Menschen immer transparenter wird, welche Bedeutung kommt Vertrauen dann zu? 

Sind Individuen nur ein Anhängsel der digitalen Maschine, Objekte neuer Mechanismen, die nach den Bestimmungen des Privatkapitals belohnen und bestrafen? 

Wie wirkt sich der soziale Zusammenhalt aus, wenn Menschen als Arbeitskräfte überflüssig werden, während ihre Daten weiterhin als Wert-Quelle in lukrativen neuen Märkten fungieren, die mit Prognosen des menschlichen Verhaltens handeln? 

Wie können wir das kontrollieren, was wir noch nicht verstehen?"

Und versucht sich einige Antworten hinsichtlich der Zukunft des Menschen als Individuum und der Gesellschaft an sich zu formulieren: 


Freitag, 24. Mai 2019

Dirty Profits: Deutsche Banken und Finanzdienstleister finanzieren weiterhin Rüstungsfirmen

"Das von den drei Unternehmen Airbus, Leonardo und BAE Systems geformte Konsortium MBDA exportierte unter anderem 450 Marschflugkörper, mehrere Tausend Luft-Boden-Raketen und Kampfflugzeuge nach Saudi-Arabien, die erwiesenermaßen auch im Jemen-Krieg zum Einsatz kommen. Die Deutsche Bank unterstützte im Untersuchungszeitraum die Geschäftsmodelle dieser drei Unternehmen mit Finanzierungen in Höhe von ca. 730 Millionen Euro, teilweise noch in 2018."

Statement des Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank am 23.05.29 auf der Jahreshauptversammlung. Quelle: Twitter

Zu diesem Schluss kommt der Bericht "Facing Finance 7", der sich mit der Finanzierung von Rüstungsunternehmen und deren Verantwortung für kriegerische Handlungen im Jemen beschäftigt. Mit großem Selbstverständnis und trotz anders lautender - selbst gegebener - Regeln werden sowohl Waffen an Kriegsparteien exportiert, als auch von (nicht nur) deutschen Finanzunternehmen Rüstungsfirmen direkt und indirekt unterstützt.

Trotz Exportstopps bleibt die Finanzierung von Rüstungsgeschäften lukrativ. Laut der Studie unterstützen die zehn größten europäischen Banken Rüstungsfirmen mit mehr als 24 Milliarden Euro. Nicht nur die Deutsche Bank, auch die Commerzbank mischt dabei kräftig mit:


Quelle: Facing Finance 7
Bei deutschen Vermögensverwaltern wie Allianz, DWS, Deka oder Union Investment kommt die Studie zu dem Schluss: "Fondsgesellschaften haben aktuell keine grundsätzlichen Bedenken, in die führenden Rüstungskonzerne weltweit zu investieren und auch das Geld ihrer Kund*innen dort anzulegen."

Das Ganze ist selbstverständlich kein rein deutsches Problem, Banken und Investmentfirmen aus ganz Europa sind Teil dieses Systems:

Quelle: Facing Finance







Eine deutsche Zusammenfassung der Studie gibt es z.B. auf tagesschau.de.

Donnerstag, 25. April 2019

Todesursache: Flucht - Wie fehlende Empathie unsere Gesellschaft in Frage stellt

schon wieder ein grab
im ewigen grabfeld meiner haut
will kein grab mehr graben
will nicht mehr auf ihnen laufen
stolpern
auf der suche nach den meinen

Adam Zameenzad, Dichter (1937 - 2017) - Übersetzung: Guntram Weber

Das Gedicht Adam Zameenzads bereitet einen darauf vor, dass man keinen "gewöhnlichen" Sammelband zum Thema Flucht und Migration aufschlägt. Es ist schwierig über ein Sachbuch zu schreiben, dessen Thema so entrückt von der Realität scheint. Es könnte sich auch um dystopische Science-Fiction handeln. Oder um vergangene Geschichte. Denn wenn es aktuell, wenn es wahr wäre, wie könnten die Menschen ihrem normalen Alltag nachgehen? 

Es mag viele Bücher geben, die von Krieg oder Ungerechtigkeit berichten, bei denen solche Sätze angebracht wären. "Todesursache: Flucht - Eine unvollständige Liste" stellt insofern keine absolute Ausnahme dar. Der Sammelband, herausgegeben von Kristina Milz und Anja Tuckermann, will "auf die Rolle unserer Gesellschaften beim Schutz von Menschen, die vor Krieg, Verfolgung, Armut oder Naturkatastrophen fliehen" aufmerksam machen. Doch zwei Dinge machen das Buch zu einem, das besondere Beachtung verdient.

Zum einen der Kern des Buches: Die Liste. 35.597 Tote stehen auf ihr. So viele Todesfälle dokumentierte die Nichtregierungsorganisation UNITED bis zum September 2018. Auf etwa 300 Seiten. 

Zum anderen die Tatsache, dass eine hohe Zahl der Toten Opfer einer Politik sind, die zurückhaltend gesagt, "ihre Entscheidungsprozesse überprüfen" sollte. Denn ihre Reaktion auf Migration in Form von Abschottung hat sich als offensichtlicher Fehlschlag erwiesen. Als einer, der mindestens knapp 36.000, wahrscheinlich dreimal so vielen, Menschen das Leben kostete. Der fremdenfeindlichen Stimmen Stärke verleiht, weil Ursachen von Migration - entgegen anders lautender Beteuerungen der Politik, wo "Fluchtursachenbekämpfung" zum Buzzword wurde - ignoriert werden. Und mehr und mehr Wählerinnen und Wähler nicht dieses Versagen der Politik anprangern, sondern zu wenig Abschottung beklagen. 

Eindrucksvoll demonstriert wurde dies erst heute, als die Zahlen der aktuellen Mitte-Studie vorgestellt wurden: "Gegenüber Asylsuchenden verschlechterten sich die Einstellungen im Vergleich zur Vorgängerstudie. So stimmte mehr als jeder Zweite (54,1 Prozent) negativen Meinungen gegenüber Asylsuchenden zu. 2016 waren es noch knapp 50 Prozent. Ein Drittel der Befragten hat der Studie zufolge außerdem nicht-liberale Einstellungen zur Demokratie und stellt gleiche Rechte für alle in Frage."

Grafik: tagesschau.de

Bei aller Zurückhaltung in der Interpretation angesichts mancher Kritik an der Studie bei der Frage nach abwertenden Einstellungen, es bedeutet bezogen auf die Zahlen zu Flucht und Migration: 

Die Zahl der Ankommenden sinkt, die Zahl der Opfer steigt, die Abneigung gegen jene, die überleben, wächst. Was sagt das über eine Gesellschaft aus? 

Bernd Mesovic schreibt in seinem Beitrag, dass "die Liste der Toten also auch eine Fortschreibung der ungeschriebenen Liste der Schiffbrüchigen aus den Katastrophen der Geschichte" ist. "Rettung ist die Aufgabe. Zu ihrem Gedächtnis." Das Buch als Erinnerung an die Tatsache, dass Flucht nichts Neues ist, die schiere Angst vor Zahlenkolonnen immer Opfer forderte und fordert, sich eine Gesellschaft aber daran messen lassen muss, ob sie irgendwann aus eingeübten Reiz-Reaktions-Schemata ausbrechen kann. Heribert Prantl weist auf diese moralische Verwerfung hin: "Wenn es bei der Rettung des Euro so kläglich wenig Einsatz gegeben hätte wie bei der Rettung von Flüchtlingen: Es gäbe den Euro schon längst nicht mehr." Ob die Sehnsucht jener, die am Ende des Euro nichts Schlechtes finden können, mit dem Schulterzucken angesichts der Ertrunkenen und Verdursteten korreliert, muss an dieser Stelle offen bleiben. 

Der Vorsitzende des Rates der EKD, Menschen, die für Offenheit und Freiheit demonstrieren, Menschenrechtsaktivisten und Wissenschaftlerinnen machen sich mit ihren Beiträgen im Buch jedenfalls angreifbar für jene, die zwar nicht vom Bevölkerungsaustausch, aber von Überfremdung sprechen, die fremde Kräfte, Altparteien und Staatsfunk am Werk sehen, wenn in der Realität schlicht die Tatsache steht, dass unser gegenwärtiges Gesellschafts- und Wirtschaftssystem Gewinner*innen und Verlierer*innen produziert und diese Asymmetrie globale Auswirkungen hat. Es kann einem fast leid tun, wie viele sich derzeit für den großen Kampf zu rüsten scheinen. Doch Umweltzerstörung, Klimawandel, Migration - sie sind zunächst gar nicht ideologisch aufgeladen. Es sind schlichte Tatsachen. 

Doch wenn Carlos Collado-Seidel appeliert: "Es darf nicht dazu kommen, dass wir uns eines Tages schämen müssen, die Prinzipien, auf denen unsere Gesellschaft aufgebaut ist, wieder einmal verraten zu haben", dann sollte allen deutlich werden, dass hier mehr verhandelt wird, als ein Anstieg von Kriminalität in bestimmten Phänomenbereichen oder mögliche Kosten für Integrationsmaßnahmen. Denn diese Verengung der Debatte ist nur möglich, weil der Eindruck erweckt wird: Diese Menschen haben nichts mit uns zu tun. Christopher K. Neumann, Professor an der LMU München, macht in seinem Beitrag deutlich: "Gerade Leute, die Angst vor Fremden, Überfremdung und Flüchtlingswellen haben, werden Rechte und Werte selbst dringlich benötigen, von denen sie glauben, dass sie Migranten leicht zu verweigern sind. Die Aufgabe dieser gemeinsamen Werte zerstört nämlich auch innerlich die Grundlage europäischer Gesellschaft. Das haben zugleich mit syrischen und süsudanesischen Flüchtlingen griechische Rentnerinnen, italienische Arbeitslose und spanische Arbeitnehmer im Krankenstand bereits am eigenen Leib erfahren."

Warum also reagiert die Politik nicht? Reagiert nicht so, dass nicht Minderheiten und Menschen ohne laute Stimme gegeneinander ausgespielt werden? Die Antwort? Für Stephan Lessenich ist sie erschreckend einfach: "So geht kollektives Ausblenden heute. Im Grunde genommen genau wie damals. Man weiß eigentlich genau, was vor sich geht. Im jedem Fall kann man es alles wissen. Aber wir wollen es nicht wissen. Mehr noch, und viel praktischer auch: Wir müssen gar nicht wissen." Und wird deutlich: "Diese Gesellschaft ist indifferent gegenüber denjenigen, die für ihre einsame Wohlstandsposition in der Welt bezahlen müssen, die die Kosten und Lasten ihrer vermeintlich "hochproduktiven", in Wahrheit aber höchst destruktiven Ökonomie zu tragen haben. Ja, sie ist geradezu indolent, schmerzunempfindlich. Wohlgemerkt: Sie ist arg empfindsam, irgendwann auch mal Lebenschancen teilen und etwas vom Kuchen abgeben zu müssen. Aber über die Schmerzen der anderen kann sie ohne weiteres und ohne viel Aufhebens hinwegsehen und -gehen." 

Autsch. Das sitzt. Denn selbst, wer für unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem Werbung macht, Armutsquoten und Kindersterblichkeitstatistiken zitiert, muss anerkennen, dass Unwuchten, Ungleichheiten und Kostenexternalisierung integraler dieses Systems sind und bleiben. Lessenich schließt dann seinen Beitrag auch so: "Klar wir können weiterhin das Sterben auf dem Weg nach Europa und den tödlichen Rassismus um uns herum ignorieren. Gleichgültigkeit muss man sich leisten können - und wir haben´s ja! So zeigen wir bestenfalls auf die üblichen Verantwortlichen, auf EU und Frontex, Kurz und Orbán, Salvini und Seehofer. Aber warum denn wohl können sie alle ihr übles Spiel immer weiter treiben? Wann spielen wir nicht mehr mit?"


Die (unvollständige) Liste

Kimpua Nsimba (24, m) und N.N. (4 Frauen, 3 Männer) lauten der erste und der letzte Eintrag in die Liste. Unterbrochen werden die Dutzenden Seiten mit Namen, Herkunftsländern, Todesursachen und Quellen von zahlreichen Schilderungen einzelner Schicksale, welche die Herausgeber*innen recherchiert haben. Wie das von Fatim Jawara, Torhüterin der gambischen Fußballnationalmannschaft, die 2016 auf dem Weg von Libyen nach Italien im Mittelmeer ertrank. Oder Suzan Hayider, die auf ihrer Flucht aus Syrien ertrinkt, eine falsche Entscheidung des BAMF hatte ihren Familiennachzug auf legalem Wege verhindert. 

Screenshot UNITED


Die Liste der Toten ist mehr als 300 Seiten bedrucktes Papier. Sie ist, so machen es die Autor*innen der Sammelbeiträge deutlich, Aufforderung und Mittel zum Handeln. Gleich zu Beginn heißt es: "Verwenden Sie die Liste der Toten!" Zugleich steht jedoch für die beiden Herausgeberinnen außer Frage, dass sie die Grundlage von einem Diskurs sein soll. Es geht aber um vielmehr, als um das so oft bemühte Ernstnehmen von Sorgen. Es geht darum, Menschen vor Augen zu führen, dass ihre eigene Haltung mit der Welt kollidiert, und nur aufrechtzuerhalten ist, wenn man Empathie verweigert und Normen, wie Menschenrechte, Solidarität oder Gerechtigkeit komplett aufgibt: "Wir teilen eine Aussage, die häufig als populistisches Instrument missbraucht wird: In unserer Zeit geht es längst nicht mehr um links oder rechts. Wir sind, und das ist furchtbar, an einem Punkt in der Debatte angekommen, an dem wir nicht mehr darüber reden, ob und wie die Integration schutzbedürftiger und neu angekommener Menschen in unserem Land gelingen kann. Europa diskutiert darüber, ob man Menschen leben oder sterben lassen soll. Das ist aber eine Frage, zu der man keine Meinung haben darf. Hier muss Gewissheit herrschen. In Wahrheit - und das ist unser Schluss - geht es heute um die Versicherung, dass ein Mensch von einem anderen als Mensch behandelt wird. Um die Herausforderung, ohne Angst aufeinander zuzugehen. Letztlich geht es allein darum, Mensch zu sein."

All die Hater*innen, die einem bei einer solchen Stelle heutzutage sofort in den Sinn kommen und vom vollen Boot und vom ideologisch verbrämten Gutbürgertum anfangen würden, seien auf den Anfang verwiesen. Politik, egal wie sie ausgestaltet wird, wird die migrationsfreie Welt nicht bringen. Sie gab es nie. 

Das Buch bietet damit all jenen die Chance dieser Illusion zu entsagen und sich damit zu beschäftigen, was real jeden Tag geschieht. Nicht um dem eigenen Leben jegliche moralische Grundlage zu entziehen, sondern um als Teil einer Gesellschaft, die diesen Zustand nicht akzeptieren und ändern will, zu wirken. Denn auch wer auf individueller Ebene bei seinem "Ja, aber..." verharrt und nicht anders kann, als die eigenen Sorgen und Ängste, die oftmals in der Realität nur als schwacher Abklatsch der eigenen Vorstellung vorgefunden werden, in das Zentrum der eigenen Aufmerksamkeit zu stellen, muss begreifen, dass eine solche Haltung eine Gesellschaft als Ganzes angreift. Denn, Geflüchtete "dürfen, um Georg Simmel zu bemühen, nicht zu Fremden gemacht werden, die bleiben. Auch in unserem ureigenen Interesse. Wenn wir nicht wollen, dass sie sich fatale Alternativen suchen, an denen sie sich in einer feindlich gesinnten Umgebung festhalten, müssen wir dafür sorgen, dass sie hier angenommen werden" schreiben Milz und Tuckermann. 

Menschenliebe meets Terrorismusgefahr. Es ist absolut kein Vorwurf, beides auf engen Raum zu thematisieren. Es ist angemessen, sogar notwendig für einen Diskurs. Dennoch ist es immer wieder bedrückend wahrzunehmen, dass die Deutung von Menschen als Sicherheitsbedrohung in unserer Zeit einen anderen Stellenwert hat, als dies noch vor dem 11. September 2001 der Fall war (auch wenn dies die Sicherheitslage nur unzureichend erklären kann) und man es kaum noch bemerkt.

Der Blick auf den Zeitraum zwischen 1970 und heute (Zahl von terroristischen Anschlägen) zeigt, dass für die Gegenwart kaum von einer größeren Bedrohung durch Terrorismus ausgegangen werden kann. Zudem zeigt sich, dass ein leichter Anstieg nach dem 11. September 2001 beobachtet werden kann. Quelle: START - National Consortium for the Study of Terrorism and Responses to Terrorism

Doch wie beschrieben geht es um viel mehr, konsequenterweise zitieren die Herausgeberinnen zum Schluss einen Satz aus dem Beitrag Angela Hermanns: "Wenn man eines aus der Geschichte lernen kann, dann ist es die Erkenntnis, dass sich Inhumanität zunächst gegen die Schwächsten richtet, bevor sie sich wie ein Flächenbrand ausbreitet."

Wie kann es dann am Ende gelingen kann, der Humanität wieder mehr Raum zur Entfaltung zu geben? Dazu nochmal Christoph K. Neumann: "Es ist von meinem Münchner Schreibtisch aus wirklich total unmöglich nachzuvollziehen, wie sich eine Flucht durch die Sahara, das libysche Kriegsgebiet und über das Meer in Richtung Sizilien anfühlt. Wie es ist, am Grenzzaun von Ceuta zu warten. Oder wie sich ein nächtlicher Aufbruch von türkischen Stränden anfühlt. (...) Trotzdem ist die Bemühung um das konkrete Begreifen von Flucht als menschlicher Erfahrung die einzige Chance. Es geht um Erinnern, Nachvollzug, Einfühlung und genaues Berichten."



Anmerkung: Das Buch wurde als kostenloses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.

Samstag, 20. April 2019

Opferzahl im Jemen überschreitet 70.000 - Einsatz von europäischen Waffen als offenes Geheimnis

Je nach Statistik, wurde die Schwelle von 70.000 getöteten Menschen im Jemen schon länger überschritten. Nun hat auch das Projekt ACLED mehr als 70.000 Opfer registriert

Bemerkenswert dabei ist, dass sich an der Intensität des Konflikts nichts geändert hat - im Gegenteil. In den vergangenen fünf Monaten allein wurden mehr als 10.000 Menschen getötet. Dies stört europäische Regierungen, die sich mit der Frage von Waffenexporten beschäftigen, jedoch nur am Rande, Stichwort: "Europäische Verpflichtungen" (Wäre es nicht schön, wenn in anderen Politikfeldern auch so große Solidarität herrschen würde?). Und europäische Waffenhersteller schon gar nicht. 

Ein Beispiel zum politischen Umgang mit dem Konflikt und dem unvorstellbaren Leid, welches er verursacht, aus Frankreich
Ein Geheimdienstbericht, der dem Investigationskonsortium Disclose zugespielt wurde, beweist, dass die französische Regierung über den massiven Einsatz französischer Waffen durch die arabische Koalition im Jemenkrieg informiert ist. 
Der Bericht wurde dem Staatspräsidenten am 3. Oktober 2018 im Elysee-Palast vorgelegt, bei einer Sitzung des Verteidigungsrats in beschränkter Besetzung, mit Verteidigungsministerin Florence Parly, Ministerpräsident Edouard Philippe, sowie Europa- und Außenminister Jean-Yves Le Drian. 
Alle Teilnehmer kennen die 15 Seiten des Berichts des französischen Militärgeheimdienstes (DRM). Er listet alle Waffen auf, die Frankreich an die Vereinigten Arabischen Emirate und an Saudi-Arabien geliefert hat. Waffen, die heute im Jemenkrieg eingesetzt werden.
Quelle: Screenshot disclose.ngo
Auch die folgende Doku (verfügbar bis zum 21. Juni) zeigt, "dass die größten Kriegsmaterialhersteller Europas – Frankreich, Großbritannien, Deutschland - weiter Waffen exportieren, die mit großer Wahrscheinlichkeit im Jemen zum Einsatz kommen. Sie legt den undurchsichtigen Waffenhandel offen und prangert das Versäumnis der EU-Politiker, ihrer Pflicht nachzukommen."

Freitag, 9. November 2018

Studie: 1000 Kilometer Mauer um Europa


"The Wall" - das Lieblingsprojekt von Donald Trump, ist mittlerweile auch hierzulande bekannt. Auch die Sperranlage zwischen Israel und den Palästinensischen Gebieten wird gerne genannt, wenn es darum geht den Trend zur Abschottung mit konkreten Beispielen zu belegen. Obwohl letzteres kaum taugt, um im Zuge von Flucht und Migration genannt zu werden. Weniger bekannt ist z.B. das milliardenschwere Grenzprojekt Saudi-Arabiens. Weitere mehr oder weniger bekannte Beispiele finden sich hier.

Kaum thematisiert sind aber die Mauern vor der "eigenen Haustür", nämlich in und um die Europäische Union. Eine aktuelle Studie zweier Wissenschaftler des Transnational Institute in Amsterdam mit dem Titel "MAUERN BAUEN - Politik der Angst und Abschottung in der Europäischen Union" schätzt, dass die Mitglieder der Europäischen Union und des Schengenraumes seit dem Ende des Kalten Krieges mittlerweile Mauern mit einer Länge von 1.000 Kilometer errichtet haben. Mauern, die in erster Linie Menschen den Zutritt versperren sollen. Mauern, die dem Gedanken der Personenfreizügigkeit und den humanitären Ansprüchen der Union entgegenstehen: Die Zahl der Mauern auf europäischem Boden ist von zwei in den 1990ern auf 15 im Jahr 2017 angestiegen, wobei allein im Jahr 2015 sieben neue Mauern entstanden. Zehn der 28 EU Mitgliedsstaaten (Spanien, Griechenland, Ungarn, Bulgarien, Österreich, Slowenien, Großbritannien, Lettland, Estland und Litauen), sowie Norwegen (welches zum Schengen-Raum gehört), haben an ihren Grenzen Mauern gegen Migration errichtet.

Quelle: Transnational Institute
Auch andere Zahlen belegen, dass Abschottung gegenwärtig ein treffender Begriff ist, um die Entwicklung an den Grenzen zu beschreiben. Denn gelingt es Menschen, die Hürden zu überwinden (und z.B. das Asylrecht in Anspruch zu nehmen), wird auch investiert, um eine Rückkehr zu erzwingen. Eine Analyse des Frontex-Budgets zeigt zum Beispiel, dass die Kosten für Abschiebungen von 83.000 Euro im Jahr 2005 auf 53 Millionen Euro 2017 gestiegen sind. Die Studie konstatiert auch einen Mentalitätswandel: "Das Narrativ der EU ist auf die Darstellung der Mobilität von Menschen als Sicherheitsproblem und der Wahrnehmung von Migrationsströmen als Gefahren ausgerichtet."

Letztlich seien auch interne Kontrollen im Schengenraum, die seit 2006 im Schengen-Grenzabkommen geregelt sind von der Ausnahme zur politischen Normalität avanciert: "Migration und politische Umstände stellen dabei die Hauptgründe für ihre Anwendung dar. Der Umstand, dass die Zahl der internen Kontrollen von drei im Jahr 2016 auf 20 im Jahr 2017 gestiegen ist, deutet auf eine Ausweitung von Maßnahmen hin, die die Bewegungsfreiheit der Menschen einschränken und überwachen."


Ob Mauer oder Zaun (wie hier Grenze die Grenze zwischen Spanien und Marokko bei Melilla): Migration wird zunehmend durch Abschottung und Kriminalisierung begegnet, auch wenn offensichtlich wird, dass am Ende keine Mauer hoch genug sein kann, um Migrationsströme zu steuern. Credits: Ongayo
Auch das EU-Programm Eurosur wird näher betrachtet: "Zusätzlich werden Programme und Werkzeuge geschaffen, um virtuelle Grenzen auszubauen, welche unsere Bewegungen überwachen. Doch die etablierten Methoden virtueller Grenzen tun mehr, als Systeme zur Bewegungskontrolle und Analyse aufzubauen. Sie errichten auch konzeptuelle Grenzen, welche die Dynamiken territorialer Machtverhältnisse reproduzieren. Länder, die entscheiden können, wer reinkommt, wer nicht und mit welcher Begründung, generieren Hierarchien in der Reisefreiheit. Das Geburtsland bestimmt über die Freiheit oder Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Menschen. Diese Aspekte sind nicht neu, doch die modernen Grenzkontrollsysteme, die entwickelt werden, erfassen all unsere Bewegungen in viel umfassenderer Weise."

Freitag, 14. September 2018

Rüstungsexporte: Freie Auswahl im Waffensupermarkt

The Economist berichtet in seiner August-Ausgabe über die Entwicklungen auf dem globalen Waffenmarkt: Mehr Wettbewerb schafft eine größere Auswahl für Käufer und exportierende Länder geraten unter Druck potentielle Interessenten nicht mit allzu viel Regulierungswünschen zu vergraulen.

Vor einigen Monate wurde in Kanada über eine Lieferung von gepanzerten Fahrzeugen im Umfang von 12 Milliarden US-Dollar debattiert. Die Regierung kündigte daraufhin an, ein Gesetz zur Regulierung von Waffenexporten in bestimmte Länder zu verbieten. Darunter auch Saudi-Arabien. Doch noch vor dem Gesetz, stockte der Deal mit dem Königreich. Als der kanadische Außenminister per Twitter die Freilassung von politischen Gefangenen forderte, wurde der Plan auf Eis gelegt. Schnell zeigte sich, dass Kanada nur einer unter vielen möglichen Lieferanten zur Erfüllung der saudischen Rüstungswünsche war. Die Türkei, Südkorea oder Brasilien hätten die gewünschten Fahrzeuge ebenfalls im Angebot. 

In den USA versuchte der Kongress, Interessenten für amerikanische Waffen vom Kauf bei Russland abzubringen. Aber auch hier zeigte sich, dass der globale Waffenmarkt zu vielfältig ist und zahlreiche Alternativen bietet, als dass ein Land die Rahmenbedingungen setzen könnte. Indien, Saudi-Arabien oder die Vereinigten Arabischen Emirate sind die heimlichen dominanten Akteure, weil ihre Taschen tief und ihre Rüstungsbestrebungen ambitioniert sind. Die USA reagieren auf ihre ganz eigene Art und Weise und versuchen alle Kanäle zu nutzen, um die heimische Rüstungsindustrie mit Aufträgen zu versorgen. 

Doch vor allem China befindet sich auf Wachstumskurs, außerdem bedeutet der schnelle technologische Wandel, dass es schwieriger geworden ist in allen Bereichen technologischer Spitzenreiter zu sein. Der Verkauf US-amerikanischer Drohnen an europäische Staaten soll zum Beispiel das Wachstum Chinas eindämmen und den Anteil am bald 50-Milliarden US-Dollar schweren Markt sichern.

Das fragile Gleichgewicht zwischen Käufern und Verkäufern, welches die USA auch immer als Mittel der Außenpolitik nutzten, wird nicht leichter durch einen US-Präsidenten, der multilaterale Arrangements gering schätzt und eine Faszination für Ein-Mann-Regime pflegt.

Aber nicht nur China "springt in die Bresche", auch Frankreich ist offensiv auf dem globalen Waffenmarkt präsent. Doch die engere Verflechtung zwischen US-amerikanischer und französischer Rüstungsindustrie führen an mancher Stelle zu Verzögerungen. Doch dann steht eben, zum Beispiel im Falle Ägyptens, Russland als Alternative bereit.

Noch immer wird der Export von Waffen in vielen Staaten als Notwendigkeit zur Sicherung des Überlebens der heimischen Waffenindustrie angesehen. Innenpolitisch wird gerne die "Arbeitsplätze in Gefahr"-Karte gespielt, doch am Ende sprechen aus Sicht vieler Regierungen strategische Sicherheitsinteressen die entscheidende Rolle. Doch diese macht unflexibel und schafft Zwänge, die am Ende in Form außenpolitischer Konflikte wieder nahe der eigenen Haustür landen. Zudem ist fraglich, inwiefern nicht Strukturen geschaffen werden können, die einerseits nationale bzw. europäische Interessen im Blick haben, den Export aber auf ein Minimum (Ausstattung von Bündnis-Partnern) beschränken. Lösungsansätze gibt es, allerdings versagen bzw. schweigen sie bisher an entscheidender Stelle, wenn es um die Frage von Exporten geht.

Das Argument, dass wenn man nicht selbst der Akteur ist, der die Rüstungsgüter exportiert, es andere sind. Russland und China würde nicht nach der Einhaltung der Menschenrechte fragen. Das mag so sein, doch diese Akteure sind bereits jetzt im Markt, die gegenwärtige Konkurrenz trägt nur einer weiteren Aufheizung des Marktes bei. Wie oben genannt, sind auch die Türkei oder Südkorea längst vom reinen Käufer zum Produzenten geworden. Diese Staaten zu einer zurückhaltenderen Rüstungsexportpolitik zu drängen, wird nicht gelingen, wenn man selbst fröhlich auf dem Markt mitmischt. Japan betrat erst 2014 den Markt, neben geopolitischen Befürchtungen, wurde es mit dem Blick nach Außen auch immer schwieriger, die eigene selbst gegebene Abstinenz weiter zu rechtfertigen.

Dabei lohnt es sich seitens der NATO-Staaten die eigene Rolle im Blick zu haben. Denn der russische Anteil am Waffenmarkt ist in den vergangenen Jahren deutlich gesunken, zwischen 2008 und 2017 um etwa sieben auf  insgesamt 22 Prozent. Gleichzeitig bleibt das russische Waffenarsenal attraktiv. Nach unterschiedlichen Angaben wurden in Syrien mehr als 200 Waffensysteme getestet


Quelle: SIPRI 2018: International arms transfers

Wie wenig Rücksicht auf die Auswirkungen von Waffenlieferungen genommen wird, zeigt ein aktueller Brief von US-Verteidgungsminister Jim Mattis, an einen Kongressabgeordneten: "We are faced with a once-in-a-lifetime opportunity to decrease Russia’s dominance in key regions." 


Brief des US-amerikanischen Verteidiungsministers Mattis an den Vorsitzenden des Streitkräfte-Ausschusses im Repräsentantenhaus. Quelle: Breaking Defense

Dazu müsse man aber flexibel sein, was den Export angeht. Informell arrangieren sich dann auch Akteure wie die USA und Russland: "The two arms-sales giants, who do not agree on much else, have welcomed India into the club."

Sonntag, 17. Juni 2018

Wissenschaft und Zivilgesellschaft Hand in Hand: Klare Mehrheit für weniger Rüstungsexporte

Das diesjährige Friedensgutachten hält sich bei seinen Empfehlungen nicht zurück. Im Gegenteil. Unter der Überschrift "Rüstungsexporte endlich restriktiv ausrichten" fordern die Autorinnen und Autoren der deutschen Friedensforschungsinstitute (BICC / HSFK / IFSH / INEF):
Die Bundesregierung sollte ein restriktives Rüstungsexportkontrollgesetz vorlegen. Genehmigungen für Exporte an Kriegsparteien im Jemen müssen widerrufen werden. Lieferungen an die Türkei sind zu unterbrechen, solange diese völkerrechtswidrig agiert.
Die Forderung nach einer klaren und transparenten gesetzlichen Kontrolle, soll künftige Exporte in Krisengebiete erschweren. Die konkrete Nennung des Jemen bezieht sich letztlich auch auf den selbst bereits ausgehandelten Kompromiss zwischen CDU/CSU und SPD, der aber am Ende mit dem Wörtchen "unmittelbar" unterlaufen wird. Nur "unmittelbar beteiligte" Staaten sollen keine Rüstungsgüter mehr erhalten, eine Haltung, die sich offenbar recht flexibel auslegen lässt. Auch die Praxis mit der der Türkei widerspricht eigentlich der offiziellen Linie der Bundesregierung. Doch Proteste dagegen versandeten auch im Falle Afrins, lieber wird die Frage des Umgangs mit der zunehmend autokratischen Türkei über dem Verhalten von zwei deutschen Fussballnationalspielern ausgefochten.

Dabei ist die Haltung der Bevölkerung in der Frage von Rüstungsexporten in Krisen- und Kriegsgebiete eindeutig und kaum misszuverstehen:


Immerhin 64 Prozent der Befragten gaben an, Rüstungsexporte grundsätzlich abzulehnen, auch das eine bemerkenswerte Zahl. Wissenschaft und Zivilgesellschaft sind sich offenbar einig darin, dass wenige Standort- und Industrieinteressen ein "Weiter so" in der Rüstungspolitik angesichts der Krisen, die auch mit deutschen Waffensystemen befeuert werden, nicht mehr rechtfertigen.

Freitag, 8. Juni 2018

Die perfekte Flüchtlingswelle

Es gäbe tausende Beispiele (und in diesem Fall ist das nicht nur so daher geschrieben), aber zwei sollen an dieser Stelle reichen, um einen Gedanken zu illustrieren, den Mely Kiyak in ihrer aktuellen Kolumne ausführt: "Es beginnt immer mit einer sprachlichen Unterscheidung von Menschen in die und wir. Dabei handelt es sich immer um willkürliche Abgrenzungen. Die Unterscheidungen bilden nicht die Wirklichkeit ab, sondern werden zuerst gezogen, dann verhandelt und erzeugen dadurch eine Wirklichkeit."

Nicht nur die Abgrenzung oder die völlig von jeglichen realen Gegebenheiten und statistischen Erkenntnissen entkoppelte Debatte um Geflüchtete, deren Integration und Migration im Allgemeinen, sondern auch das Wording sind gegenwärtig - ganz neutral gesagt - bemerkenswert. So ist die "Welle" das nun offenbar allgemein akzeptierte und nicht mehr hinterfragte Bild, welches Eingang in den öffentlichen Diskurs gefunden hat. 
 "Durch die Welle der Zuwanderung entsteht bei manchen Menschen das Gefühl: Wir sind gar nicht mehr bei uns zu Hause, sondern wir werden überfremdet."
Joachim Gauck sprach diese Sätze in der großen (kostenlosen) Heimat-Ausgabe der BILD-Zeitung. Ein Alt-Bundespräsident also, der immer sehr viel Wert auf Staatstragendes gelegt hat und der gestern als "Brückenbauer in einer vielfältigen Gesellschaft" den Reinhard-Mohn-Preis der Bertelsmann-Stiftung erhielt. Den man durchaus als Vertreter einer allgemeinen Meinung, die niemandem weh tut (tun soll) bezeichnen kann. Den Preis erhielt er, weil er in der Debatte um Zuwanderung und Flucht eine klare Haltung gezeigt habe. Angesichts solcher Sätze fragt man sich: Welche?


Screenshot bild.de
Es sei "nicht hinnehmbar, wenn Menschen, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben, sich nicht auf Deutsch unterhalten können, keine Elternabende ihrer Kinder besuchen oder diese sogar vom Unterricht oder vom Sport fernhalten," fuhr er im Interview fort und man fragt sich: Welcher normale Mensch bestreitet das? Und wenn man schon solch ein Beispiel (auf eine übrigens völlig andere Frage) bringt: Wie viele Personen, die seit "Jahrzehnten", also mindestens 20 Jahre, hier in Deutschland leben, sprechen kein Deutsch, haben aber Kinder im schulfähigen Alter, deren Elternabende sie nicht besuchen und halten diese vom Sportunterricht fern? Diese Personen müssen es in der Schule sehr schwer gehabt haben. Oder recht spät zu Elternfreuden gekommen sein.

Wer solche Sätze als "Beweis" für allgemeine Problemlagen bringt, muss sich auch an deren Gehalt messen lassen. Oder es geht bloß um Gefühle und Empfindungen, also Postfaktisches. Dafür sollte man aber dann keine Preise (die mit 200.000 Euro dotiert sind) erhalten. 

Zurück zur Welle. In einem aktuellen tagesschau.de-Interview mit Werner Schiffauer, emeritierter Sozial- und Kulturanthropologe der Europa-Universität-Viadrina in Frankfurt Oder und Vorsitzender des Rats für Migration, eines bundesweiten Zusammenschlusses von rund 150 Migrationsforschern, sagte dieser zur Frage der AnKER-Zentren (die er ablehnt):
"Wir haben bereits in den 1990er-Jahren bei der ersten großen Flüchtlingswelle schlechte Erfahrungen mit Massenunterkünften gemacht und sind davon wieder abgerückt."
Die Flüchtlingswelle ist also auch selbstverständlicher semantischer Teil des akademischen Diskurses geworden, ohne böse gemeint zu sein. Die damit hervorgerufenen Assoziationen (Überwältigung; Naturgewalt; homogenes monolithisches Gebilde; zerstörerische Kraft;...) und bedrohliche Wirkung werden mithin gar nicht wahrgenommen. Im Gegenteil. Weiter sagt Schiffauer:
"Wenn ganze Horden von jungen Männern so zusammen untergebracht werden, keine sinnvolle Beschäftigung haben, dann sind die sehr frustriert."
Inhaltlich macht seine Aussage Sinn, eine Horde ist aber nun einmal "im allgemeinen Sinne eine umherziehende wilde Bande oder Rotte." Hier wird es wie selbstverständlich genutzt, auch wenn es nicht darum geht, dass die jungen Männer von vornherein den Plan haben, marodierend umherzuziehen. 

Sprachliche Feinheiten mag man meinen. Angesichts der Entwicklung des Diskurses aber ein Indiz dafür, wie wir selbst Wirklichkeit erzeugen und eine Auseinandersetzung mit Worten rahmen, ohne nach deren Gehalt zu fragen.

Donnerstag, 25. Januar 2018

Studie: Warum die Entwicklungszusammenarbeit an Grenzen stößt

Die Studie Green Innovation Centre in Zambia: Fighting Hunger through Corporate Supply Chains? analysiert den Ansatz und die Auswirkungen des Grünen Innovationszentrums (GI) in Sambia, das die GIZ im Auftrag der Bundesregierung umsetzt. Sie zeigt, dass auch gut gemeinte, über den Ansatz der bloßen Nothilfe oder der klassischen Entwicklungshilfe hinausgehende Ansätze, schnell an Grenzen stoßen. Dies liegt auch daran, dass große Risiken entstehen, wenn sich die Interessen der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit mit denen von Großkonzernen kreuzen.

Das aktuelle Projekt des deutschen Entwicklungsministeriums zielt darauf ab Kleinbauern in Lieferketten zu integrieren und auf diese Weise ihr Einkommen zu steigern. In den Bereichen Soja und Erdnuss arbeitet die GIZ mit den NGOs COMACO und Good Nature Agro zusammen, im Bereich Milch mit der holländischen Organisation SNV. Doch die ZEIT schreibt zur Studie:

"Die Projekte in Sambia erreichen nur einen kleinen Teil der bessergestellten Kleinbauern", sagt Benjamin Luig, Experte für Ernährungssouveränität der Stiftung. Problematisch sei, dass die geförderten Betriebe in nationale, regionale oder globale Lieferketten integriert würden – aber das zu schaffen, dazu sei eine Mehrheit der kleinen Bauern gar nicht in der Lage. Und die Landwirte, denen es gelinge, produzierten am Ende nicht für den lokalen Markt, sondern für Konzerne wie den Baumwoll- und Getreidehändler NWK Agri-Services, den Agrarhandelsriesen Cargill und den italienischen Molkereikonzern Parmalat. Höhere Preise als zuvor aber erzielten die Bauern in vielen Fällen nicht."
Der Staat setzt also bei der Entwicklungshilfe immer mehr auf die Privatwirtschaft bzw. den Umweg über Nichtregierungsorganisationen, die eng mit dieser zusammenarbeiten. Die Gefahr: Statt Armut zu bekämpfen, fördert man Abhängigkeiten von Großkonzernen, wie ein Dokumentarfilm von ARTE zeigt:
Durch den Ausbau von öffentlich-privaten Partnerschaften und industriell angelegte Strategien. Ansätze zur Förderung von lokal bewährten, traditionellen Anbaumethoden und Aspekte wie der Erhalt der Artenvielfalt und der Bodenfruchtbarkeit vor Ort spielen in dem Entwicklungsprogramm, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle. Zu den bekanntesten afrikanischen Kritikern des bestehenden Systems der staatlichen Entwicklungshilfe gehört die Ökonomin Dambisa Moyo. Sie stammt, wie Bäuerin Annie Mpere, aus Sambia. In ihrem viel beachteten Buch „Dead Aid“ geht die ehemalige Weltbank-Mitarbeiterin so weit, einen sofortigen Stopp der von den Industrieländern im großen Maßstab vergebenen Fördergelder zu empfehlen. Ihrer Analyse zufolge hat sich die soziale und ökologische Lage in den meisten Teilen Afrikas in den vergangenen Jahrzehnten eher verschlimmert als verbessert – trotz der vielen Milliarden, die reiche Länder für den Aufbau des Kontinents bereitstellten.
„Die Vorstellung, Entwicklungshilfe könne systematische Armut mindern und habe dies bereits getan, ist ein Mythos. Millionen Afrikaner sind heute ärmer – nicht trotz, sondern aufgrund der Entwicklungshilfe“, schreibt Moyo. Der „auf Mitleid und Almosen basierende Ansatz“ der westlichen Entwicklungshilfe untergrabe in Wahrheit Handel, Wachstum und Investitionen in Afrika, fördere korrupte Regierungen und verschärfe dadurch noch die Instabilität der Länder. „Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, die Menschen ermutigen, sich selbst zu helfen“, fordert Moyo. Für ihre Landsfrau Annie Mpere bedeutet dies wohl: besser Bäuerin bleiben – ohne Big Business.
Auch die aktuelle Studie benennt das grundlegende Problem: "Die Programme agieren in Sektoren, in denen wenige transnationale Konzerne dominieren und auf billige Agrarrohstoffe angewiesen sind." Dies erschwert nachhaltige und auskömmliche Strukturen für die lokalen Produzenten ungemein. Dies ist kein Versagen der Kleinbauern, und eben auch nicht des Entwicklungsministeriums. Aufgrund der Handels- und Wirtschaftsstrukturen ist die "Hilfe zur Selbsthilfe" schlicht stark begrenzt in der Wirkung.

Die komplette Studie gibt es online (English).

Dienstag, 5. Dezember 2017

Salafismus: Verkürzungen und Verallgemeinerungen spielen Extremisten in die Hände

"Die bemerkenswerte Ahnungslosigkeit über einzelne Personen des islamistischen Spektrums ist nach meinem Eindruck kein spezifisch deutsches oder gar Berliner Problem, sondern hat sich bei vielen Fällen islamistischer Straftaten der letzten Monate auch im Ausland immer wieder gezeigt.

Das hängt offensichtlich zusammen mit dem sehr komplexen und vielschichtigen Phänomen "Islamismus" und seinen vielen Facetten sowie mit der Tatsache, dass es trotz zahlreicher wissenschaftlicher Forschungsprojekte bisher nicht gelungen ist, taugliche Merkmale radikalisierungsanfälliger Personen zu definieren."
Die Sätze stammen aus dem Abschlussbericht des Sonderbeauftragten Bruno Jost, der das Behördenhandeln nach dem Anschlag vom 19. Dezember 2016 am Berliner Breitscheidtplatz untersuchte. Neben dem Wort "Behördenversagen", das recht schnell medial geprägt wurde - Jost nennt zahlreiche Beispiele für unzureichende Auswertungen, fehlende Zusammenführungen von Daten und mangelnder Koordination - und der auch heute noch aktuellen Diskussion, ob der Staat angemessen auf die Bedürfnisse der Opfer und deren Angehörigen reagierte, kommt hier ein weiterer Punkt zum Ausdruck: mangelndes Wissen bzw. blinde Flecke bei den Behörden, aber auch in der Politik (und der Öffentlichkeit). Denn im Zusammenhang mit der Frage, ob und wie der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt hätte verhindert werden können, geht es ja auch darum, ob und wie Menschen davon abgehalten werden können radikal zu werden und solche Anschläge zu begehen.

Der Bericht zeigt damit (ohne diese Themen direkt zu addressieren) die Bedeutung der Prävention und des Verständnisses von Radikalisierungsprozessen. Genau dieser Frage widmete sich dann auch Anfang dieser Woche eine Konferenz der Bundeszentrale für politische Bildung mit dem Titel "Grenzenloser Salafismus - Grenzenlose Prävention", die sich mit dem Thema aus einer europäischen Sicht auseinandersetzte. Denn:

Die meisten Anschläge zeigen dieses Merkmal, also die Bedeutungslosigkeit von Grenzen für das Handeln radikal salafistischer Akteure. Wer nun aber reflexhaft die Forderung nach geschlossenen Grenzen erhebt, sollte sich bewusst sein, dass Terrorismus ein höchst fluides und dynamisches Phänomen ist. In den vergangenen 25 Jahren haben sich die Strategien mehrmals und fundamental verändert. In autokratischen und totalitären Staaten mögen Anschläge seltener sein, ausschließen lassen sie sich nicht. Eine einfache Lösungstrategie zu propagieren, helfe kaum weiter, so auch die Leiterin der Fachabteilung der bpb, Dr. Caroline Hornstein Tomic:

Einer der führenden Forscher im Bereich islamistischer Terrorismus und militanter Salafismus, Gilles Kepel, wies in seinem Vortrag auf das Austauschverhältnis von Sicherheit und Freiheit hin, nicht ohne deutlich vor den Gefahren durch salafistische Akteure zu warnen:

Soziale Faktoren von großer Bedeutung

Ein Vergleich dschihadistischer Salafisten mit Terroristen der 19070er Jahre in Deutschland und Italien sei zwar zulässig, da sich die Strategien ähnelten. Jedoch greife er zu kurz und schaffe nicht das nötige Verständnis, um aktuelle Phänomen zu bekämpfen. Denn die Logik der Akteure sei eine gänzlich andere. Dies verändere z.B. die Rekrutierungskanäle. Die Ideologie und soziale Faktoren gingen dabei Hand in Hand, so Kepel.

Er spricht von "global victimization" mit der es eine direkte Bezugnahme auf soziale Deprivation (also eine Ausgrenzung, die unterschiedlichste Ursachen haben kann) gebe. Dies sei die neue Strategie des Dschihad bzw. dessen Protagonisten in der dritten Phase gewesen, um die globale Ausbreitung zu unterstützen. Hieraus ergeben sich wichtige Hinweise auf die Bedeutung der sozialen Dimension, um Terrorismus zu bekämpfen bzw. Radikalisierung zu verhindern.

Strategiewechsel zeigen Wandlungsfähigkeit 

Diese dritte Phase des salafistischen Dschihad, sieht Kepel auch durch einen Strategiewechsel geprägt: Nicht mehr "top-down", sondern "bottom-up". Also keine zentrale Instanz mehr, die logistisch steuert, sondern eine, welche "Graswurzelbewegungen" ideologisch fördert. Man könnte auch sagen, dass Netzwerke im Zusammenhang mit der Radikalisierung ihre hohe Bedeutung behalten, für die eigentliche Planung und Umsetzung eines Anschlags aber nur noch eine untergeordnete Rolle spielen bzw. ihr Einfluss sinkt. Dies lässt sich aus der "wachsenden Banalität" (Jost) der Attacken erklären. Platt gesagt, es genügt der Wille und ein Küchenmesser. Oder eben ein LKW.

Kepel wies in seinem Vortrag auch auf die gestiegene Akzeptanz unter Muslimen hin. Dies sei keineswegs selbstverständlich und Ergebnis einer längeren Prozesses. Erste Dschihadisten, z.B. in Algerien, wurden noch als "Fremde" und "Störenfriede" betrachtet und erhielten keine Unterstützung durch die Bevölkerung. Dies änderte sich erst nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Zum einen wurde die Verletzlichkeit des Westens deutlich, zum anderen befeuerte die militärische Reaktion die "Beliebtheit" des Dschihad, bzw. führte den Menschen vor Ort die scheinbare Legitimität des bewaffneten Kampfes vor Augen. So dürfe der Irakkrieg nicht unterschätzt werden. Er prägte den dschihadistischen Salafismus als Ideologie. Deutschland wurde dabei anfangs verschont. Dies ergab sich nicht nur aus der Nichtteilnahme am Krieg, sondern hatte auch soziale Gründe. Eine geringere Arbeitslosigkeit und die Dominanz von Menschen mit türkischem Migrationshintergrund, die vor allem durch ihre nationale Identität und weniger religiös geprägt waren, spielten dabei eine wichtige Rolle.

Auch hieraus ergeben sich wieder Lehren für die Prävention und Deradikalisierung. Harte Gegenschläge oder gar Präventivmaßnahmen unter Inkaufnahme hoher ziviler Opferzahlen spielen Terroristen in die Hände. Auch eine monolithische Sichtweise des Islams und die Klassifizierung als naturgemäß stark politisierte und gewaltbereite Religion lassen sich nicht halten und verstellen den Blick auf tieferliegendere Ursachen.

Das reine Reiz-Reaktions-Schema ist sicherlich zu vereinfachend. Denn der Salafismus wurde schon in den 1980er-/1990er-Jahren zunehmend politisch und radikal. Ausgangspunkt des Dschihad waren Afghanistan bzw. Pakistan. Zunächst handelte es sich jedoch um einen "defensiven Dschihad", der allerdings weitreichende Konsequenzen hatte. Denn Gewalt wurde zunehmend als notwendiges und legitimes Mittel betrachtet. Diese Genese der Militanz und Radikalität führt heute dazu, dass das Narrativ der Gewaltanwendung in radikal salafistischen Kreisen nicht mehr hinterfragt wird. Doch dies war eben nicht immer so.

Anerkennen von Multikausalität als Grundbedingung der Präventionsarbeit

Kepel machte aber auch deutlich, dass spezifisch europäische Faktoren zur heutigen Gestalt des radikalen Salafismus beitrugen. Kinder von Immigranten grenzten sich formal mit dem Erlernen der Sprache der neuen Heimat ab und wurden bereits im Rahmen der Schulbildung anders sozialisiert als deren Eltern. Dies löste laut Kepel eine Art Gegenbewegung aus, z.B. in Form einer religiösen Bildung, die zur Abgrenzung beitrug. Dies wurde allerdings zunächst als völlig unproblematisch betrachtet. Doch vor allem soziale Faktoren trugen zu einer Isolation bestimmter Gruppen bei. Historisch gesehen veränderte sich die Situation zudem Anfang der 1990er als Saudi-Arabien direkt in Europa Einfluss nahm. Der Salafismus wurde mit Hilfe saudischer Mittel als strikte Auslegung des Islam politisch propagiert. War dies anfangs noch analog und schleppend, kamen die großen Veränderungen mit der digitaler Vernetzung.

An diesem Punkt stehen wir heute. Das Internet spielt eine zentrale Rolle für die Radikalisierung von (vor allem) jungen Menschen. Bislang reagieren die europäischen Staaten überwiegend (betrachtet man die eingesetzten finanziellen Mittel) mit sicherheitspolitischen Instrumenten. Auch Gilles Kepel hob in seinem Vortrag deren Notwendigkeit hervor. Doch gehe es nicht immer nur um "Mehr", sondern auch um eine andere Qualität. Er sieht die Zentralisierung der Sicherheitsbehörden als entscheidenden Faktor an. Doch schränkten er und andere Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Wirksamkeit der Sicherheitsarchitektur auch deutlich ein. Die Formel ist dabei einfach: Ohne ein tiefgehendes Verständnis für die Ideologie keine wirksame Terrorbekämpfung. Prävention müsse dabei nicht nur individuelle psychologische Faktoren einbeziehen, sondern fragen: Was werden künftige Ziele und Strategien sein?

Denn die militärische Niederlage des IS und die bereits erfolgte Restrukturierung der Sicherheitsbehörden hat die Situation verändert. "Bottom-up terrorism" zeigt nun seine "Nachteile", nämlich einen Mangel an Visionen und Strategie. Dieses Vakuum wird sicherlich bald gefüllt werden, die vierte Phase des Dschihad beginnen.

Der Vortrag Kepels öffnete damit eine Tagung, die sich von der individuellen Mikroebene (Was brachte ihn/sie dazu einen Anschlag zu begehen?), über die gesellschaftliche Mesoebene (Welche sozialen Hintergründe hatten die Täter/Täterinnen?) bis hin zur Makroebene mit den Fragen von Krieg und Frieden (Welche Ressourcen besitzen Terrorgruppen? Welche globalen Strukturen begünstigen terroristische Aktionen?) mit zahlreichen Facetten des Phänomens beschäftigte.

Nicht immer lassen sich dabei Muster finden, Widersprüche müssen ausgehalten und in die Analyse miteinbezogen werden. Zum Beispiel auf der individuellen Ebene: Die "postmoderne" Dschihadistenrolle baut solche Widersprüche, wie den Handel mit Drogen oder den Genuss von Alkohol, integrativ mit ein. Sie sind kein Widerspruch, sondern Wesensmerkmal. Vereinfachungen und Generalisierungen sind also nicht angebracht: "Ich habe Hunderte von Leuten mit einer solchen Biographie gesehen, die sich nicht radikalisiert haben", brachte es ein Teilnehmer auf den Punkt.

Die Öffentlichkeit, die Medien und die Behörden täten also gut daran sich eingehender mit der Thematik zu beschäftigen. Dies verhindert, dass Personengruppen kollektiv unter Verdacht gestellt werden und eine effektive und im rechtstaatlichen Rahmen agierende Terrorismusbekämpufung möglich bleibt.

Anmerkung: Der Autor ist Mitarbeiter der Bundeszentrale für politische Bildung. Der Text ist eine persönliche Wahrnehmung der beschriebenen Konferenz und stellt keine offizielle Meinungsäußerung der bpb dar.

Mittwoch, 27. September 2017

Der Demokratie eine Darmspiegelung verpassen - AfD-WählerInnen erzählen

Die ZEIT fragte: "Warum haben Sie AfD gewählt?" Das ist natürlich löblich, wenn auch etwas spät (naheliegende Alternative für 2021: vorher fragen). An dieser Stelle wurde bereits die Frage thematisiert, ob eben nicht diese große Aufmerksamkeit, die der Partei und nun den Wählerinnen und Wählern zukommt, auch zum Erfolg der Partei führte. Da ist sicherlich etwas dran. Doch im Rahmen der Nachwehen der Bundestagswahl und der Frage: "Was wird die AfD nun machen?" ist es schon interessant, was denn die Wählerinnen und Wähler eigentlich erwarten. Und die Sitze sind nun eben auch vergeben, da kommt es auf die eine oder andere Zeile auch nicht mehr an.

Schaut man sich die Antworten genauer an, dann sind sie oft abstrus, aber teilweise auch beängstigend und traurig. Und der Beweis dafür, dass die meisten Menschen keine Kommentare im Internet hinterlassen. Zumindest stirbt die Hoffnung darauf zuletzt. Auf jeden Fall später als als die meisten Abgeordneten der AfD. Denn die sind zu 88 (hihi) Prozent Männer, die ja bekanntlich nicht so alt werden wie Frauen. Zum Beispiel Lothar Maier mit 73 Jahren, Paul Viktor Podolay mit 71 Jahren, Albrecht Glaser mit 75 Jahren, Wilhelm von Gottberg mit 77 Jahren und nicht zu vergessen, Alexander Gauland mit 76 Jahren.

Im Folgenden nun einige ausgewählte Kommentare mit Erläuterungen:


Eigentlich löblich, wenn man von den eigenen Interessen abstrahiert. Warum aus dem Umgang mit dem Dieselskandal aber die Wahl der AfD wird? Das bleibt das Geheimnis von n00track. Genauso wie der Fehlschluss hinsichtlich der persönlichen Umstände von Alice Weidel. Einzelfälle und persönliche Erfahrungen ("Ich habe einen Nachbar, der..." oder "Ich habe nichts gegen XY, denn ich habe auch einen Freund, der...") taugen einfach nicht zur Erklärung allgemeiner Phänomene.

Deutlicher kann man nicht machen, dass man ein Parteiprogramm nicht gelesen hat. Haben natürlich 95 Prozent der anderen Wählerinnen und Wähler auch nicht. Im Bereich der recht sensiblen "Rechtsradikalität" könnte ein Blick aber lohnen, anstatt sich da auf andere zu verlassen...

Weder Asylrecht abschaffen, noch DM wieder einführen - ist ja schon mal lobenswert. Doch wo kommt diese Wahrnehmung des Linkrucks her? Vom Mindestlohn, von dem man nicht leben kann? Von der Regulierung des Finanzmarktes und des Bankensektors, die nur in Nuancen stattgefunden hat? Von der massiven Reduzierung der Flüchtlingszahlen durch Asylrechtsverschärfung innerhalb eines Jahres, obwohl die Zahlen weltweit weiter steigen? Oder doch am Schluss von der "Ehe für Alle?" Letztendlich ist es dann nach Schulzexpress mal wieder die Islamisierung, mit einem (falschen) Einzelbeispiel belegt. Da wählt man halt die "Schmuddelpartei". Empfehlung: Mal reale Politikergebnisse anschauen und mit den eigenen Erwartungen vergleichen. Da bekäme #dankemerkel für den User vermutlich eine ganz andere Bedeutung (da zufrieden). 

Plain and simple. Und irgendwie halt auch am Thema vorbei. Beziehungsweise: Ist ja ok, das nicht zu wollen. Aber ist eben auch nicht der Fall (und auch nicht auf dem Weg dahin. Auch nicht 2050.) 

Oha, keine Dumpfbacke. Sondern Broder und Tichy-Fan. Nun mag es böse Zungen geben, die bei dieser Argumentation nicht mitgehen. Aber geschenkt. Interesse für Religion ist auf jeden Fall vorhanden. Ob man aber islamwissenschaftliche Diskurse an bzw. in die Wahlurne tragen sollte? Und Ayn Rand? Die sagte mal: "This god, this one word: I." Selbstzentriert, man mag es gar narzistisch nennen, und die Verherrlichung des Individualismus als Lebensphilosophie? Mmh, das könnte wieder zur Wahlentscheidung passen. Wobei, da bleibt das Völkische eben auch auf der Strecke... Außenpolitische Gründe gibt es ja aber auch noch. Keine afghanischen Zustände in Deutschland - das würden sicherlich viele Menschen (87 Prozent?) unterschreiben. 



Bemerkenswert ist die durchgehende Medienkritik und die Formel: AfD-Bashing + Toleranz-Totalitarismus = Kreuz bei der AfD, um es der Lügenpresse mal so richtig zu zeigen.  Man kann nur staunen, angesichts dieser Herleitung. Denn eigentlich bedeutet ja Toleranz im ersten Schritt etwas abzulehnen. Etwas ablehnen zu dürfen. Um es dann im nächsten Schritt zu tolerieren. Was daran totalitär sein soll, können wohl nur wenige erklären. Klar, die "Juden der neuen Zeit" sehen wir hier (ob der Post noch online ist?), da muss noch der Appell hin: "Seht ihr denn gar nicht, was wirklich vor sich geht?" Ähm doch. Um das zu sehen, lohnt manchmal auch ein Klick auf Arte beispielsweise. Aber nein, das ist ja Propaganda und Kriegshetzerei. Statt Abschottung der EU wäre auch Abschaffung der GEZ als Hauptinhalt für den Wahlkampf ausreichend gewesen. Hätte vermutlich noch mehr Stimmen gebracht.

Kritik an der Energiewende? Ok, zurückdrehen wird zugegeben parteitechnisch schwierig. Abschwächen und Anpassen geht aber auch mit anderen Parteien. Klar, als Kernkraftbefürworter steht man ohnehin eher alleine da, da lohnt sich der Blick zur AfD. Offenbar haben weiße Männer zwischen 30 und 60 die größte Kernkraftaffinität. Muss man nicht verteufeln, wirklich progressiv ist es aber eben auch nicht. Eine Liste, die sich beliebig fortsetzen lässt, ist natürlich immer praktisch.

Aus Sicht von Hessin war die Diskussion um den "Nafri" also absurd. Doch worum ging es da nochmal? Darum, dass die Abkürzung für "Nordafrikanischer Intensivtäter“ steht und polizeiintern zum Beispiel im Funkverkehr genutzt wird. Menschen, die aus Nordafrika kommen als "Nafri" zu bezeichnen, setzt diese also pauschal mit Kriminellen gleich. Wer jetzt noch eine nähere Erläuterung braucht, warum das problematisch ist? Beziehungsweise, warum es übermäßige politische Korrektheit sein soll, eine Gruppe von Menschen nicht in Kollektivhaftung zu nehmen? Die Antwort darauf sollte eigentlich nicht so schwierig sein. Im Zusammenhang mit dem Wort "Kollektiv..." hat da ja auch die AfD eine ähnliche Position. Lehnt sie ab. Dann kommen Dinge, die man diskutieren kann. Aber eben nur, wenn man jemanden gegenübersteht, der oder die nicht von Anfang an die pc-Keule schwingt. Und dass Männer, die meinen Frauen seien reine Sexobjekte, nicht tolerierbar sind? Völlig richtig. Doch was hat das (ausschließlich) mit Integration zu tun?

Deutlicher kann man nicht werden: "Der Demokratie eine Darmspiegelung verpassen" - Positiv ist da sicher das Vertrauen in die Demokratie zu sehen. Fraglich aber, ob wirklich nur die Spiegelung gemeint ist? Bei vielen anderen Wählerinnen und Wählern vermutlich eher die Darmspülung, auch Einlauf oder Klistier genannt. Die kommt oft vor der Spiegelung. Der Effekt der "inneren Reinigung" ist dabei aber nur ein Gerücht. 

Ein Dank an die "Systempresse". Auch mal nett. Von jemandem, den die Einwanderungspolitik umtreibt. Der Klassiker sozusagen. "Wild West"-Einwanderung kann natürlich nicht im Sinne der Bürgerinnen und Bürger sein, zu dreckig, zu laut und zu wenig Stellplätze für Pferde. Witzig ist, dass hier Flucht und Migration "wild" vermischt wird. Eigentlich ein oft genannter Kritikpunkt der AfD-AnhängerInnen. Aber im Herzen ist Daniela_Mo ja auch eine Grüne. Hoffentlich für sie aus dem Wahlkreis von Boris Palmer.

Tim11 offenbar auch. Und auch ein Freund der Genfer Flüchtlingskonvention. Nur dann fängt man an zu lesen und fragt sich: "Ist ja alles gut und schön, aber DER Krieg (Syrien, Afghanistan zum Beispiel) ist ja eben noch nicht zu Ende." Und je nachdem dauert der Konflikt eben länger als man glaubt. Warum dann nicht beide Seiten von der unglücklichen Fluchtsituation profitieren lassen. Also Integration, Arbeit, usw. ermöglichen? Dass Strafffällige bereits regelmäßig abgeschoben werden? Egal, schließlich ist das Pinkelwohnzimmerbild so schön.

Man liest und liest und liest und denkt: "Ok, klare Kante, harte Formulierung, aber falsche Partei Alf." Ob eine Partei "heftig" sein soll, muss man mit einem Fragezeichen versehen, dass ein Wechsel Links der Mitte möglich ist, nicht. Aber lieber eine Partei wählen, mit der niemand koalieren will, wenn man einen Wechsel will? Aber klar, die AfD stand eben unter Feuer. Oder wie Alexander Gauland es mal formulierte: "Wenn die Granaten einschlagen, steht man zusammen." Was eben auch wieder demonstriert, dass man der AfD in der Sache möglichst nicht blind folgen sollte. Zur eigenen Sicherheit.


Kein Merkel-Fan, enttäuscht von der SPD, entfremdet von den Linken. Ok, etwas anders formuliert. Hart in der Sache eben, wie man so schön sagt. Warum die Linke ihren Klassenstandpunkt verloren haben soll? Vielleicht liegt die Krux in der Annahme, dass alle Menschen gleich sind. Das Medienversagen, tja, mag sein. Unglückliches Agieren auf jeden Fall. Aber das liegt vielleicht eher im Abfeiern jeden Satzes von AfD-Funktionären, denn im Verschweigen und Propaganda verbreiten. Und die Kritik ist ja auch schon formuliert. Aber wozu damit aufhalten, "Mittäterschaft" klingt halt besser. Das dritte Argument ist jedenfalls unschlagbar: "Ich weiss nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll." Muskote-Zigarettenpapier ist also auch an der Wahlurne unverzichtbarer Begleiter.

GEZ? Weg! Ansonsten eben ein demokratischer Neuanfang (dann ohne öffentlich-rechtlichen Rundfunk?) mit rechten Spinnern. Auch eine Sichtweise.



Immer gut: Mal etwas klar stellen, was eigentlich niemand in Frage stellt, wenn man nicht Anlass zum Zweifel gibt. Aber ok, ein Demokrat ist alex_hh. Da denkt man, man kriegt eine CDU-Kritik, doch drei Worte später ist man dann doch wieder bei den Asylanten. Und Rechtsextrem ist eben in Ordnung, die dürfen dann auch ins Parlament, wenn die Linksextremen in einem Haus sitzen dürfen (das dann irgendwann geräumt wird) und am 1. Mai (hauptsächlich) Randale (die Konsequenzen haben) veranstaltet werden. Da muss man eben wieder staunen und fast den Hut ziehen, wie leicht es gelingt Dinge zum Vergleich heranzuziehen, nur um dann völlig unterschiedliche Phänomene zu betrachten.


Was bleibt? Viel Kopfschütteln, auch wenn die Auswahl natürlich willkürlich und nicht repräsentativ war (mittlerweile sind mehr als 500 Kommentare gepostet worden) und die meisten Menschen Besseres zu tun haben als Onlinekommentarspalten aktiv zu bespielen. 

Gestern erschien an dieser Stelle ein Beitrag, der sich weniger Aufregung und ein wenig mehr Zurückhaltung wünscht. Die Kommentierung der Kommentare ist daher mit einem Augenzwinkern zu sehen und von der Überzeugung geprägt: Menschen sind keine Wölfe, keine Rassisten (wenn sie sich selbst reflektieren) und getrieben von eigenen Ängsten, die nichts entschuldigen, aber erklären. Daher zum Schluss vielleicht noch ein Beitrag, der ein wenig bestärkender ist und dennoch keinen Glückskekscharakter besitzt. Veröffentlicht hat ihn Nasser Ahmed, SPD-Stadrat in Nürnberg