Freitag, 8. Juni 2018

Die perfekte Flüchtlingswelle

Es gäbe tausende Beispiele (und in diesem Fall ist das nicht nur so daher geschrieben), aber zwei sollen an dieser Stelle reichen, um einen Gedanken zu illustrieren, den Mely Kiyak in ihrer aktuellen Kolumne ausführt: "Es beginnt immer mit einer sprachlichen Unterscheidung von Menschen in die und wir. Dabei handelt es sich immer um willkürliche Abgrenzungen. Die Unterscheidungen bilden nicht die Wirklichkeit ab, sondern werden zuerst gezogen, dann verhandelt und erzeugen dadurch eine Wirklichkeit."

Nicht nur die Abgrenzung oder die völlig von jeglichen realen Gegebenheiten und statistischen Erkenntnissen entkoppelte Debatte um Geflüchtete, deren Integration und Migration im Allgemeinen, sondern auch das Wording sind gegenwärtig - ganz neutral gesagt - bemerkenswert. So ist die "Welle" das nun offenbar allgemein akzeptierte und nicht mehr hinterfragte Bild, welches Eingang in den öffentlichen Diskurs gefunden hat. 
 "Durch die Welle der Zuwanderung entsteht bei manchen Menschen das Gefühl: Wir sind gar nicht mehr bei uns zu Hause, sondern wir werden überfremdet."
Joachim Gauck sprach diese Sätze in der großen (kostenlosen) Heimat-Ausgabe der BILD-Zeitung. Ein Alt-Bundespräsident also, der immer sehr viel Wert auf Staatstragendes gelegt hat und der gestern als "Brückenbauer in einer vielfältigen Gesellschaft" den Reinhard-Mohn-Preis der Bertelsmann-Stiftung erhielt. Den man durchaus als Vertreter einer allgemeinen Meinung, die niemandem weh tut (tun soll) bezeichnen kann. Den Preis erhielt er, weil er in der Debatte um Zuwanderung und Flucht eine klare Haltung gezeigt habe. Angesichts solcher Sätze fragt man sich: Welche?


Screenshot bild.de
Es sei "nicht hinnehmbar, wenn Menschen, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben, sich nicht auf Deutsch unterhalten können, keine Elternabende ihrer Kinder besuchen oder diese sogar vom Unterricht oder vom Sport fernhalten," fuhr er im Interview fort und man fragt sich: Welcher normale Mensch bestreitet das? Und wenn man schon solch ein Beispiel (auf eine übrigens völlig andere Frage) bringt: Wie viele Personen, die seit "Jahrzehnten", also mindestens 20 Jahre, hier in Deutschland leben, sprechen kein Deutsch, haben aber Kinder im schulfähigen Alter, deren Elternabende sie nicht besuchen und halten diese vom Sportunterricht fern? Diese Personen müssen es in der Schule sehr schwer gehabt haben. Oder recht spät zu Elternfreuden gekommen sein.

Wer solche Sätze als "Beweis" für allgemeine Problemlagen bringt, muss sich auch an deren Gehalt messen lassen. Oder es geht bloß um Gefühle und Empfindungen, also Postfaktisches. Dafür sollte man aber dann keine Preise (die mit 200.000 Euro dotiert sind) erhalten. 

Zurück zur Welle. In einem aktuellen tagesschau.de-Interview mit Werner Schiffauer, emeritierter Sozial- und Kulturanthropologe der Europa-Universität-Viadrina in Frankfurt Oder und Vorsitzender des Rats für Migration, eines bundesweiten Zusammenschlusses von rund 150 Migrationsforschern, sagte dieser zur Frage der AnKER-Zentren (die er ablehnt):
"Wir haben bereits in den 1990er-Jahren bei der ersten großen Flüchtlingswelle schlechte Erfahrungen mit Massenunterkünften gemacht und sind davon wieder abgerückt."
Die Flüchtlingswelle ist also auch selbstverständlicher semantischer Teil des akademischen Diskurses geworden, ohne böse gemeint zu sein. Die damit hervorgerufenen Assoziationen (Überwältigung; Naturgewalt; homogenes monolithisches Gebilde; zerstörerische Kraft;...) und bedrohliche Wirkung werden mithin gar nicht wahrgenommen. Im Gegenteil. Weiter sagt Schiffauer:
"Wenn ganze Horden von jungen Männern so zusammen untergebracht werden, keine sinnvolle Beschäftigung haben, dann sind die sehr frustriert."
Inhaltlich macht seine Aussage Sinn, eine Horde ist aber nun einmal "im allgemeinen Sinne eine umherziehende wilde Bande oder Rotte." Hier wird es wie selbstverständlich genutzt, auch wenn es nicht darum geht, dass die jungen Männer von vornherein den Plan haben, marodierend umherzuziehen. 

Sprachliche Feinheiten mag man meinen. Angesichts der Entwicklung des Diskurses aber ein Indiz dafür, wie wir selbst Wirklichkeit erzeugen und eine Auseinandersetzung mit Worten rahmen, ohne nach deren Gehalt zu fragen.

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