Montag, 25. Januar 2010

Zweites Massaker nahe Jos aufgedeckt - aktuelle Bilder zeigen Bewohner in Angst - Zahl der Toten steigt auf 550 - Religion als Flammenherd oder Brandbeschleuniger?


Mindestens 150 ermordete Menschen wurden in den vergangenen beiden Tagen in dem Dorf Kuru Jantar, etwa 30 Kilometer von Jos entdeckt. Ihre Körper waren in Brunnenschächte und Mauern "gestopft" worden. Bewohner berichteten von einer Jagd auf die muslimischen Bewohner, die mit Macheten, Äxten und Schusswaffen getötet, aber auch lebendig verbrannt wurden. Das Massaker hängt mit den Tötungen in Jos zusammen, wo sich christliche und muslimische Bewohner gewaltsame Auseinandersetzungen lieferten. Dorfbewohner sagten, auswärtige Christen hätten die Morde verübt. Eine genaue Untersuchung steht aber noch aus.


Guardian
 


Viele Bewohner fliehen aus Jos, wo eine massive Militärpräsenz ein Wiederaufflammen der Gewalt verhindern soll. Insgesamt sollen mindestens 492 Menschen getötet worden sein. In den vergangenen Jahren sind damit mehr als 2.500 Menschen Opfer der inter-religiösen Gewalt geworden. Extreme Unterschiede zwischen Arm und Reich, Diskriminierung und fehlende Partizipationsmöglichkeiten bestimmter ethnischer Gruppen erschweren eine Konfliktlösung zusätzlich.

Aktuelle Bilder:



Währenddessen hat die Armee ihre Soldaten angewiesen möglichst unauffällig zu agieren, um keine weitere Gewalt zu provozieren. Am Montag gaben verschiedene Quellen, darunter Human Rights Watch die Zahl der Toten mit mindestens 550 an. Mindestens 60 weitere Leichen, darunter manche enthauptet, wurden heute in und um Jos geborgen. Mehr als 300 Menschen wurden seit dem Ausbruch der Gewalt festgenommen.

Zum Auslöser der Gewalt schreibt Marc Engelhardt, der für "Neues Deutschland" aus Jos berichtet:
[Der christliche] Pfarrer Yamsat hingegen spricht von einem gezielten Angriff nach der Sonntagsmesse (17. Jan.). »Das war geplant, unsere Jugendlichen haben sich nur verteidigt«, so Yamsat. »Die Muslime wollen das Land alleine regieren, aber das geht nicht, es gehört Christen und Muslimen gleichermaßen.« Die Anspannung zeigt sich in einer Ankündigung Yamsats: »Je gewalttätiger die Muslime werden, desto gewalttätiger werden wir Christen.« Nicht alle teilen Yamsats Einschätzung. Der Muslim Shamaki Gad von der Menschenrechtsliga in Jos macht vor allem soziale Spannungen verantwortlich. »Frühere Ausschreitungen sind nie aufgeklärt worden, niemand wurde verhaftet - deshalb gibt es ein Gefühl der Straflosigkeit«, so Gad. »Weil auch die versprochenen Reparationen vom Staat nie geflossen und die Leute arm und hoffnungslos sind, gehen sie aus Frust erneut auf die Straße.« Seine Analyse teilt Gad mit dem katholischen Erzbischof von Jos. »Die Auseinandersetzungen haben sehr wenig mit Religion zu tun«, so Ignatius Kaigama. »Religion wird hier instrumentalisiert, um ethnische und politische Interessen leichter durchzusetzen.«
Damit werden auch solche Berichte in Frage gestellt, welche die scheinbar naheliegendste Erklärung wählen und die sich mit solchen Grafiken untermauern lassen:

 

 BBC

Folgende zeigt z.B. die Existenz des Scharia-Rechts in muslimisch-dominierten Staaten bzw. welche mit bedeutenden muslimischen Bevölkerungsanteilen. Die Nord-Süd-Linie ist klar erkennbar und auch Jos als Teil des "Plateau-State" an deren Grenze. Doch sagt dies eben erstmal noch nichts über die wirklichen Gründe für die Gewalt aus. Dies bedeutet nicht, dass eine religiöse Konfliktlinie Nigeria nicht bis zu einem gewissen Grad spalten würde. Doch inwiefern die Religion von bestimmten Kreisen als Machtinstrument gebraucht wird, geht daraus nicht hervor.
 



Die gesamte Entwicklung des Rechtssystems muss auch in einem historischen Kontext als Reaktion auf das vom Kolonialherren Großbritannien implementierte Rechtssystem verstanden werden. Außerdem im Zuge mehrerer Verfassungsdebatten, die auf die - ohne Zweifel bestehenden - religiösen Unterschiede zugespitzt wurden.  So schreibt der der Islamwissenschaftler Franz Kogelmann in der Zeitschrift "inamo":
Die Gründe für die Implementierung des islamischen Strafrechts in Nordnigeria seit 1999 mögen mannigfaltig sein – politische, soziale und/oder religiöse erscheinen plausibel. Auch haben sich im Laufe der knapp zwanzig Jahre seit der ersten nigerianischen Scharia-Debatte in den Jahren 1976-78 in zahlreichen muslimischen Staaten viele Veränderungen ergeben, die Auswirkungen auf Nigeria hatten und einem gedeihlichen Klima zwischen Christen und Muslimen nicht immer förderlich waren. Zweifelsohne nehmen in Staaten mit einem muslimischen Bevölkerungsanteil vermeintlich religiöse Argumente in politischen Diskussionen heutzutage einen hohen Stellenwert ein, doch möglich geworden ist diese rechtliche Entwicklung in Nigeria offensichtlich durch die fehlerhafte Ausarbeitung des von christlichen Delegierten bekämpften Verfassungsentwurfes von 1979.
Der nigerianische Wirtschaftswissenschaftler Lamido Sanusi sagte schon 2005 in einem Interview:
Welche Erwartungen setzte die Bevölkerung in den nördlichen Staaten in die Einführung der Scharia?

Ende der 90er Jahre stand Nigeria kurz vor dem Zusammenbruch: Die Regierung war extrem korrupt; die Armut sehr hoch. Die Menschen im Norden hofften, die Scharia würde die Politiker ehrlich machen und für eine gute Regierung, bessere Schulen und eine anständige moralische Ordnung sorgen.

Hat die Scharia gehalten, was sich die Menschen von ihr versprochen haben?

Nein, die Hoffnungen der Leute wurden enttäuscht. Viele Nigerianer haben erkannt, dass nur die Armen und Frauen zu bestimmten Strafen verurteilt werden. Die Korruption ist immer noch hoch. Für die meisten ist das Leben durch die Scharia nicht besser geworden.

Gouverneure und andere Politiker der nördlichen Staaten nutzen die Scharia, um politische Vorteile zu gewinnen. Instrumentalisieren sie die Scharia, um die Regierung Olusegun Obasanjos, eines Südnigerianers, zu destabilisieren?

Einige der Gouverneure haben die Scharia zu einem gewissen Grad instrumentalisiert. Aber ich glaube nicht, dass das Ziel war, die Zentralregierung zu destabilisieren. Die Scharia ist hier ein wichtiges Mittel für die Gouverneure, eine solide politische Basis für sich zu gewinnen. Sie garantiert, dass die regionalen Politiker weiterhin Zugang zu politischer Macht haben. In diesem Zusammenhang wurde die Scharia ausgenutzt.
Trotzdem zeigen die regelmäßigen Gewaltausbrüche, dass in der Armut und Perspektivlosigkeit radikale religiöse Strömungen einen guten Nährboden finden und in dem Vorurteile und Gewaltbereitschaft ungestört wachsen können. Religion als effektiver Brandbeschleuniger. Sollte sich dies nicht ändern, wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis in dem bevölkerungsreichsten Staat Afrikas wieder interreligiöse Kämpfe die Stabilität und den langsamen Demokratisierungsprozess gefährden werden und in der öffentlichen Wahrnehmung und dem Selbstbild der nigerianischen Gläubigen der "Clash of Religion" blutige Wahrheit wird.

1 Kommentar:

  1. Differenzierter, knapper aber prägnanter Artikel! Zwar sehr sachlich aber dafür nich populistisch. Gefällt mir gut

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