Montag, 24. Juni 2019

"Wer glaubt, ich bin ein Ni****, der braucht einen" - Was "I am not your Negro" über unseren eigenen Rassismus zu sagen hat

Der Dokumentarfilm "I am not your Negro" erzählt die Geschichte von James Baldwin und seinem Werk „Remember This House”. Baldwin schrieb nur knapp 30 Seiten, obwohl er 1979 mit dem Schreiben begann und erst acht Jahre später, im Jahr 1987, starb. Er wollte darin die Geschichte vom Leben und gewaltsamen Tod seiner Freunde Martin Luther King Jr., Medgar Evers und Malcolm X festhalten. Die Morde an den drei schwarzen Bürgerrechtlern traumatisierten eine ganze Generation und waren ein schwerer Schock für Baldwin. Raoul Peck machte 2015 aus dem unvollendeten Manuskript und Interviews seinen Film, in dem er zahlreiche Bezüge zum heutigen Amerika herstellt. Zu sehen ist er u.a. bei Netflix oder zur Zeit bei Arte.

Doch "I am not your Negro" sagt nicht nur etwas über den Konflikt und den Rassismus in den USA aus. Seine Zitate offenbaren vielmehr eine universelle Wahrheit über die Wurzeln, den Umgang und die Folgen von Rassismus.
Was mich in Amerika immer wieder erschüttert, ist eine so unfassbare Gefühlsarmut und eine so tiefe Furcht vor dem menschlichen Leben, vor menschlicher Berührung. So tief, dass kaum ein Amerikaner in der Lage zu sein scheint, eine tragfähige organische Verbindung zwischen seinem Auftreten in der Öffentlichkeit und seinem Privatleben zu entwickeln. 
Dieses Scheitern des Privatlebens hat von jeher eine verheerende Auswirkung auf das Verhalten der Amerikaner in der Öffentlichkeit gehabt - und auf die Beziehung zwischen Schwarzen und Weißen. 
Würden sich die Amerikaner nicht so sehr vor ihrem Privaten selbst fürchten, wären sie nie so abhängig von dem geworden, was sie das „Negerproblem“ nennen.
Es drängt sich die Frage auf, ob sich daran etwas geändert hat. Persönliche Freiheiten, zum Beispiel das Recht auf Abtreibung, werden eingeschränkt. Minderheiten systematisch diskriminiert und der Gewalt und Willkür von Sicherheitsbehörden und Justiz ausgesetzt. Auch aufgrund von "moralischen" Werten, die vorgeblich im Persönlichen hochgehalten werden - aber auch dort nicht gelebt werden.

Wie sieht es zum Beispiel in Deutschland aus? Ist nicht auch hier zu fragen, wie sogenannte "besorgte Bürger" die von ihnen propagierten Werte und Normen konsequent missachten. Sie im Privaten vor sich her tragen und in der Öffentlichkeit davon abrücken. Und was das eigentlich über sie aussagt. 

Nächstenliebe, Respekt, Humanismus - alles Selbstverständlichkeiten, bekäme man zu hören. Doch loggt sich jemand bei Facebook ein oder stellt sich auf den Wiener Platz oder den Altmarkt in Dresden spielen die plötzlich keine Rolle mehr. Vielleicht auch, weil sie im Persönlichen eben doch nicht so gelebt werden?

Baldwin schreibt:
Dieses Problem, dass sie erfunden haben, um ihre Reinheit zu schützen, hat sie zu Verbrechern und Ungeheuern gemacht. Und es zerstört sie.
Und das nicht wegen irgendetwas, das Schwarze vielleicht tun oder nicht tun, sondern wegen der Rolle, die eine schuldige und beschränkte weiße Fantasie den Schwarzen zugewiesen hat.   

(dauerhaft abrufbar in der bpb-Mediathek)

Der Zusammenhang zwischen der Fähigkeit zur Reflektion, dem Umgang mit den eigenen Schwächen und Rassismus ist offensichtlich. Denn nur wer seine eigene Angst kennt und anerkennt, kann gegen sie angehen. Abstiegsängste und der Wunsch nach Anerkennung, Sehnsüchte und Sorgen - es ist so einfach die Frustrationen und Schwierigkeiten des eigenen Lebens auf einer anderen Gruppe abzuladen. Sich an ihr aufzurichten, Ungewolltes ihr zuzuschieben. Und schließlich wird der eigene Rassismus oftmals auch durch die Tatsache gespeist, dass man zu der Gruppe gehört, die davon profitiert (selbst wenn man persönlich gar nichts davon hat):
Ich bezeuge: Die Welt ist nicht weiß. Sie ist nie weiß gewesen. Kann nicht weiß sein. "Weiß" ist eine Metapher für Macht. Und das ist einfach eine Beschreibung der Chase Manhattan Bank."
Es geht also um Macht. Um die Frage, wer Entscheidungen dominiert und von ihnen profitiert. Dies ist kein besonderes Merkmal der USA. Auch die Schlussworte Baldwins besitzen eine universelle Gültigkeit. Der Umgang mit Minderheiten ist der Prüfstein einer Gesellschaft. Es ist kein bloßer Humanismus, sondern Selbsterhaltung, gegen die Marginalisierung und Diskriminierung Anderer einzutreten:
Ich kann kein Pessimist sein, denn ich bin am Leben. Pessimist sein bedeutet, das Leben als akademische Frage aufzufassen. Deshalb bin ich gezwungen, Optimist zu sein und zu glauben, wir können überleben, was immer wir überleben müssen. Aber die Schwarzen in diesem Land, die Zukunft der Schwarzen in diesem Land ist genauso hell oder so dunkel wie die Zukunft des Landes. Es liegt allein in der Hand der Amerikaner und unserer Politiker. Es liegt allein in der Hand der Amerikaner, ob sie dem Fremden, den sie so lange verleugnet haben, ins Gesicht sehen, sich mit ihm befassen und ihn einbeziehen.
Die Weißen müssen versuchen, in ihren eigenen Herzen zu finden, warum es überhaupt notwendig war einen Ni**** zu haben. Denn ich bin kein Ni****. Ich bin ein Mensch. Wer glaubt, ich bin ein Ni****, der braucht einen. Die Frage, die sich die weiße Bevölkerung im Land stellen muss [...]: Wenn ich hier nicht der Ni**** bin, und ihr ihn erfunden habt, wenn ihr, die Weißen, ihn erfunden habt, müsst ihr herausfinden, warum. Die Zukunft des Landes hängt davon ab, sich dies fragen zu können. 
Deutlicher kann man es nicht formulieren. Wenn wir als Gesellschaft nicht in der Lage sind uns mit unseren kritisch Haltungen auseinanderzusetzen, so Baldwin, dann wird diese Gesellschaft nicht überleben können. Rassisten würden an dieser Stelle applaudieren, und verstehen doch nicht, dass unser Menschsein davon abhängt: 
Die Geschichte ist nicht die Vergangenheit. Sie ist die Gegenwart. Wir tragen unsere Geschichte in uns. Wir sind unsere Geschichte. Wenn wir etwas anderes vorgeben, dann sind wir buchstäblich Verbrecher. 
Oder um es mit den Worten Angela Hermanns, Historikerin am NS-Dokumentationszentrum München, auszudrücken: "Wenn man eines aus der Geschichte lernen kann, dann ist es die Erkenntnis, dass sich Inhumanität zunächst gegen die Schwächsten richtet, bevor sie sich wie ein Flächenbrand ausbreitet."

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