Donnerstag, 25. April 2019

Todesursache: Flucht - Wie fehlende Empathie unsere Gesellschaft in Frage stellt

schon wieder ein grab
im ewigen grabfeld meiner haut
will kein grab mehr graben
will nicht mehr auf ihnen laufen
stolpern
auf der suche nach den meinen

Adam Zameenzad, Dichter (1937 - 2017) - Übersetzung: Guntram Weber

Das Gedicht Adam Zameenzads bereitet einen darauf vor, dass man keinen "gewöhnlichen" Sammelband zum Thema Flucht und Migration aufschlägt. Es ist schwierig über ein Sachbuch zu schreiben, dessen Thema so entrückt von der Realität scheint. Es könnte sich auch um dystopische Science-Fiction handeln. Oder um vergangene Geschichte. Denn wenn es aktuell, wenn es wahr wäre, wie könnten die Menschen ihrem normalen Alltag nachgehen? 

Es mag viele Bücher geben, die von Krieg oder Ungerechtigkeit berichten, bei denen solche Sätze angebracht wären. "Todesursache: Flucht - Eine unvollständige Liste" stellt insofern keine absolute Ausnahme dar. Der Sammelband, herausgegeben von Kristina Milz und Anja Tuckermann, will "auf die Rolle unserer Gesellschaften beim Schutz von Menschen, die vor Krieg, Verfolgung, Armut oder Naturkatastrophen fliehen" aufmerksam machen. Doch zwei Dinge machen das Buch zu einem, das besondere Beachtung verdient.

Zum einen der Kern des Buches: Die Liste. 35.597 Tote stehen auf ihr. So viele Todesfälle dokumentierte die Nichtregierungsorganisation UNITED bis zum September 2018. Auf etwa 300 Seiten. 

Zum anderen die Tatsache, dass eine hohe Zahl der Toten Opfer einer Politik sind, die zurückhaltend gesagt, "ihre Entscheidungsprozesse überprüfen" sollte. Denn ihre Reaktion auf Migration in Form von Abschottung hat sich als offensichtlicher Fehlschlag erwiesen. Als einer, der mindestens knapp 36.000, wahrscheinlich dreimal so vielen, Menschen das Leben kostete. Der fremdenfeindlichen Stimmen Stärke verleiht, weil Ursachen von Migration - entgegen anders lautender Beteuerungen der Politik, wo "Fluchtursachenbekämpfung" zum Buzzword wurde - ignoriert werden. Und mehr und mehr Wählerinnen und Wähler nicht dieses Versagen der Politik anprangern, sondern zu wenig Abschottung beklagen. 

Eindrucksvoll demonstriert wurde dies erst heute, als die Zahlen der aktuellen Mitte-Studie vorgestellt wurden: "Gegenüber Asylsuchenden verschlechterten sich die Einstellungen im Vergleich zur Vorgängerstudie. So stimmte mehr als jeder Zweite (54,1 Prozent) negativen Meinungen gegenüber Asylsuchenden zu. 2016 waren es noch knapp 50 Prozent. Ein Drittel der Befragten hat der Studie zufolge außerdem nicht-liberale Einstellungen zur Demokratie und stellt gleiche Rechte für alle in Frage."

Grafik: tagesschau.de

Bei aller Zurückhaltung in der Interpretation angesichts mancher Kritik an der Studie bei der Frage nach abwertenden Einstellungen, es bedeutet bezogen auf die Zahlen zu Flucht und Migration: 

Die Zahl der Ankommenden sinkt, die Zahl der Opfer steigt, die Abneigung gegen jene, die überleben, wächst. Was sagt das über eine Gesellschaft aus? 

Bernd Mesovic schreibt in seinem Beitrag, dass "die Liste der Toten also auch eine Fortschreibung der ungeschriebenen Liste der Schiffbrüchigen aus den Katastrophen der Geschichte" ist. "Rettung ist die Aufgabe. Zu ihrem Gedächtnis." Das Buch als Erinnerung an die Tatsache, dass Flucht nichts Neues ist, die schiere Angst vor Zahlenkolonnen immer Opfer forderte und fordert, sich eine Gesellschaft aber daran messen lassen muss, ob sie irgendwann aus eingeübten Reiz-Reaktions-Schemata ausbrechen kann. Heribert Prantl weist auf diese moralische Verwerfung hin: "Wenn es bei der Rettung des Euro so kläglich wenig Einsatz gegeben hätte wie bei der Rettung von Flüchtlingen: Es gäbe den Euro schon längst nicht mehr." Ob die Sehnsucht jener, die am Ende des Euro nichts Schlechtes finden können, mit dem Schulterzucken angesichts der Ertrunkenen und Verdursteten korreliert, muss an dieser Stelle offen bleiben. 

Der Vorsitzende des Rates der EKD, Menschen, die für Offenheit und Freiheit demonstrieren, Menschenrechtsaktivisten und Wissenschaftlerinnen machen sich mit ihren Beiträgen im Buch jedenfalls angreifbar für jene, die zwar nicht vom Bevölkerungsaustausch, aber von Überfremdung sprechen, die fremde Kräfte, Altparteien und Staatsfunk am Werk sehen, wenn in der Realität schlicht die Tatsache steht, dass unser gegenwärtiges Gesellschafts- und Wirtschaftssystem Gewinner*innen und Verlierer*innen produziert und diese Asymmetrie globale Auswirkungen hat. Es kann einem fast leid tun, wie viele sich derzeit für den großen Kampf zu rüsten scheinen. Doch Umweltzerstörung, Klimawandel, Migration - sie sind zunächst gar nicht ideologisch aufgeladen. Es sind schlichte Tatsachen. 

Doch wenn Carlos Collado-Seidel appeliert: "Es darf nicht dazu kommen, dass wir uns eines Tages schämen müssen, die Prinzipien, auf denen unsere Gesellschaft aufgebaut ist, wieder einmal verraten zu haben", dann sollte allen deutlich werden, dass hier mehr verhandelt wird, als ein Anstieg von Kriminalität in bestimmten Phänomenbereichen oder mögliche Kosten für Integrationsmaßnahmen. Denn diese Verengung der Debatte ist nur möglich, weil der Eindruck erweckt wird: Diese Menschen haben nichts mit uns zu tun. Christopher K. Neumann, Professor an der LMU München, macht in seinem Beitrag deutlich: "Gerade Leute, die Angst vor Fremden, Überfremdung und Flüchtlingswellen haben, werden Rechte und Werte selbst dringlich benötigen, von denen sie glauben, dass sie Migranten leicht zu verweigern sind. Die Aufgabe dieser gemeinsamen Werte zerstört nämlich auch innerlich die Grundlage europäischer Gesellschaft. Das haben zugleich mit syrischen und süsudanesischen Flüchtlingen griechische Rentnerinnen, italienische Arbeitslose und spanische Arbeitnehmer im Krankenstand bereits am eigenen Leib erfahren."

Warum also reagiert die Politik nicht? Reagiert nicht so, dass nicht Minderheiten und Menschen ohne laute Stimme gegeneinander ausgespielt werden? Die Antwort? Für Stephan Lessenich ist sie erschreckend einfach: "So geht kollektives Ausblenden heute. Im Grunde genommen genau wie damals. Man weiß eigentlich genau, was vor sich geht. Im jedem Fall kann man es alles wissen. Aber wir wollen es nicht wissen. Mehr noch, und viel praktischer auch: Wir müssen gar nicht wissen." Und wird deutlich: "Diese Gesellschaft ist indifferent gegenüber denjenigen, die für ihre einsame Wohlstandsposition in der Welt bezahlen müssen, die die Kosten und Lasten ihrer vermeintlich "hochproduktiven", in Wahrheit aber höchst destruktiven Ökonomie zu tragen haben. Ja, sie ist geradezu indolent, schmerzunempfindlich. Wohlgemerkt: Sie ist arg empfindsam, irgendwann auch mal Lebenschancen teilen und etwas vom Kuchen abgeben zu müssen. Aber über die Schmerzen der anderen kann sie ohne weiteres und ohne viel Aufhebens hinwegsehen und -gehen." 

Autsch. Das sitzt. Denn selbst, wer für unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem Werbung macht, Armutsquoten und Kindersterblichkeitstatistiken zitiert, muss anerkennen, dass Unwuchten, Ungleichheiten und Kostenexternalisierung integraler dieses Systems sind und bleiben. Lessenich schließt dann seinen Beitrag auch so: "Klar wir können weiterhin das Sterben auf dem Weg nach Europa und den tödlichen Rassismus um uns herum ignorieren. Gleichgültigkeit muss man sich leisten können - und wir haben´s ja! So zeigen wir bestenfalls auf die üblichen Verantwortlichen, auf EU und Frontex, Kurz und Orbán, Salvini und Seehofer. Aber warum denn wohl können sie alle ihr übles Spiel immer weiter treiben? Wann spielen wir nicht mehr mit?"


Die (unvollständige) Liste

Kimpua Nsimba (24, m) und N.N. (4 Frauen, 3 Männer) lauten der erste und der letzte Eintrag in die Liste. Unterbrochen werden die Dutzenden Seiten mit Namen, Herkunftsländern, Todesursachen und Quellen von zahlreichen Schilderungen einzelner Schicksale, welche die Herausgeber*innen recherchiert haben. Wie das von Fatim Jawara, Torhüterin der gambischen Fußballnationalmannschaft, die 2016 auf dem Weg von Libyen nach Italien im Mittelmeer ertrank. Oder Suzan Hayider, die auf ihrer Flucht aus Syrien ertrinkt, eine falsche Entscheidung des BAMF hatte ihren Familiennachzug auf legalem Wege verhindert. 

Screenshot UNITED


Die Liste der Toten ist mehr als 300 Seiten bedrucktes Papier. Sie ist, so machen es die Autor*innen der Sammelbeiträge deutlich, Aufforderung und Mittel zum Handeln. Gleich zu Beginn heißt es: "Verwenden Sie die Liste der Toten!" Zugleich steht jedoch für die beiden Herausgeberinnen außer Frage, dass sie die Grundlage von einem Diskurs sein soll. Es geht aber um vielmehr, als um das so oft bemühte Ernstnehmen von Sorgen. Es geht darum, Menschen vor Augen zu führen, dass ihre eigene Haltung mit der Welt kollidiert, und nur aufrechtzuerhalten ist, wenn man Empathie verweigert und Normen, wie Menschenrechte, Solidarität oder Gerechtigkeit komplett aufgibt: "Wir teilen eine Aussage, die häufig als populistisches Instrument missbraucht wird: In unserer Zeit geht es längst nicht mehr um links oder rechts. Wir sind, und das ist furchtbar, an einem Punkt in der Debatte angekommen, an dem wir nicht mehr darüber reden, ob und wie die Integration schutzbedürftiger und neu angekommener Menschen in unserem Land gelingen kann. Europa diskutiert darüber, ob man Menschen leben oder sterben lassen soll. Das ist aber eine Frage, zu der man keine Meinung haben darf. Hier muss Gewissheit herrschen. In Wahrheit - und das ist unser Schluss - geht es heute um die Versicherung, dass ein Mensch von einem anderen als Mensch behandelt wird. Um die Herausforderung, ohne Angst aufeinander zuzugehen. Letztlich geht es allein darum, Mensch zu sein."

All die Hater*innen, die einem bei einer solchen Stelle heutzutage sofort in den Sinn kommen und vom vollen Boot und vom ideologisch verbrämten Gutbürgertum anfangen würden, seien auf den Anfang verwiesen. Politik, egal wie sie ausgestaltet wird, wird die migrationsfreie Welt nicht bringen. Sie gab es nie. 

Das Buch bietet damit all jenen die Chance dieser Illusion zu entsagen und sich damit zu beschäftigen, was real jeden Tag geschieht. Nicht um dem eigenen Leben jegliche moralische Grundlage zu entziehen, sondern um als Teil einer Gesellschaft, die diesen Zustand nicht akzeptieren und ändern will, zu wirken. Denn auch wer auf individueller Ebene bei seinem "Ja, aber..." verharrt und nicht anders kann, als die eigenen Sorgen und Ängste, die oftmals in der Realität nur als schwacher Abklatsch der eigenen Vorstellung vorgefunden werden, in das Zentrum der eigenen Aufmerksamkeit zu stellen, muss begreifen, dass eine solche Haltung eine Gesellschaft als Ganzes angreift. Denn, Geflüchtete "dürfen, um Georg Simmel zu bemühen, nicht zu Fremden gemacht werden, die bleiben. Auch in unserem ureigenen Interesse. Wenn wir nicht wollen, dass sie sich fatale Alternativen suchen, an denen sie sich in einer feindlich gesinnten Umgebung festhalten, müssen wir dafür sorgen, dass sie hier angenommen werden" schreiben Milz und Tuckermann. 

Menschenliebe meets Terrorismusgefahr. Es ist absolut kein Vorwurf, beides auf engen Raum zu thematisieren. Es ist angemessen, sogar notwendig für einen Diskurs. Dennoch ist es immer wieder bedrückend wahrzunehmen, dass die Deutung von Menschen als Sicherheitsbedrohung in unserer Zeit einen anderen Stellenwert hat, als dies noch vor dem 11. September 2001 der Fall war (auch wenn dies die Sicherheitslage nur unzureichend erklären kann) und man es kaum noch bemerkt.

Der Blick auf den Zeitraum zwischen 1970 und heute (Zahl von terroristischen Anschlägen) zeigt, dass für die Gegenwart kaum von einer größeren Bedrohung durch Terrorismus ausgegangen werden kann. Zudem zeigt sich, dass ein leichter Anstieg nach dem 11. September 2001 beobachtet werden kann. Quelle: START - National Consortium for the Study of Terrorism and Responses to Terrorism

Doch wie beschrieben geht es um viel mehr, konsequenterweise zitieren die Herausgeberinnen zum Schluss einen Satz aus dem Beitrag Angela Hermanns: "Wenn man eines aus der Geschichte lernen kann, dann ist es die Erkenntnis, dass sich Inhumanität zunächst gegen die Schwächsten richtet, bevor sie sich wie ein Flächenbrand ausbreitet."

Wie kann es dann am Ende gelingen kann, der Humanität wieder mehr Raum zur Entfaltung zu geben? Dazu nochmal Christoph K. Neumann: "Es ist von meinem Münchner Schreibtisch aus wirklich total unmöglich nachzuvollziehen, wie sich eine Flucht durch die Sahara, das libysche Kriegsgebiet und über das Meer in Richtung Sizilien anfühlt. Wie es ist, am Grenzzaun von Ceuta zu warten. Oder wie sich ein nächtlicher Aufbruch von türkischen Stränden anfühlt. (...) Trotzdem ist die Bemühung um das konkrete Begreifen von Flucht als menschlicher Erfahrung die einzige Chance. Es geht um Erinnern, Nachvollzug, Einfühlung und genaues Berichten."



Anmerkung: Das Buch wurde als kostenloses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.

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