Freitag, 12. Oktober 2018

Gesichtserkennung: Verhältnismäßigkeit ist nicht Teil der Debatte

"Die Ergebnisse zeigen, dass die Technik zur Gesichtserkennung unsere Polizistinnen und Polizisten im Alltag erheblich unterstützen kann. Die Systeme haben sich in beeindruckender Weise bewährt, so dass eine breite Einführung möglich ist. Wir können damit in bestimmten Bereichen die Polizeiarbeit noch effizienter und effektiver gestalten und damit die Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger verbessern."

So klingt es, wenn ein Minister ein Projekt der eigenen Verwaltung lobt. Hier ist es Innenminister Horst Seehofer nach Abschluss des Projekts "Sicherheitsbahnhof Berlin Südkreuz". Dort ging es um biometrische Gesichtserkennung und um die Frage, ob diese flächendeckend eingesetzt werden kann. Nach Meinung des Ministers und der Bundespolizei kann sie das jetzt. Nun kann man aber fragen: Warum sollte sie es?

Die Frage klingt naiv, und im Abschlussbericht der Bundespolizei steht dann auch: "Bei Vorliegen der - u. a. technischen - Voraussetzungen könnten biometrische Kamerasysteme auch zur Fahndung nach Terroristen und Gewalttätern u. a. auf dem Gebiet der Bahnanlagen der Eisenbahnen des Bundes (§ 3 BPolG) durch die Bundespolizei eingesetzt werden."


Überwachungskamera G03 der deutschen Bundespolizei zur Gesichtserkennung hinter dem linken Ausgang der Westhalle vom Bahnhof Berlin Südkreuz zum Hildegard-Knef-Platz. Foto: Membeth; unter Creative Commons CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication.

Terrorismus also - eine der "beliebtesten" sicherheitspolitischen Begründungen. Und eine, die kaum kritisch hinterfragt wird. Denn Terrorgefahr ist zumeist latent und in unterschiedlicher Ausprägung immer irgendwie da. Sie macht den meisten Menschen Angst und bleibt auf den "Spitzenplätzen", wenn es um die Frage geht, vor was sich die Deutschen fürchten. Manche Beobachter*innen argumentieren, dass es eben auch einen deutlichen Anstieg in den vergangenen Jahren gegeben habe und sich "der Terror" nach Europa verlagere. Doch die Statistik der vergangenen 30 Jahre gibt das schlicht nicht her

In anderen Politikfeldern brauchen Entscheidungen und Anpassungen deutlich länger. Sie reifen, könnte man sagen. Bei der Frage des Brandschutzes zum Beispiel. Über Jahrzehnte wurde über die Einführung einer Pflicht für Rauchmelder diskutiert. Als sie schließlich (von den Ländern jeweils in Eigenregie) beschlossen wurde, wurden großzügige und lange Übergangsfristen eingeräumt. Gleichzeitig war die Entscheidung ein Beispiel, wie lange diskutiert und am Ende dennoch eine Entscheidung, deren wirklicher Mehrwert nicht ohne weiteres zu erkennen ist, gefällt wurde. Es las sich dann auch so oder so ähnlich, wenn über die neue Pflicht berichtet wurde:
Ich frage mich, ob hier noch die Verhältnismäßigkeit stimmt. 384 Brandopfer gab es 2012 in Deutschland. Halb so viele wie 1980. Offenbar geht es auch ohne Rauchmelder.
Dies ist bemerkenswert. Handelt es sich bei Feuer ja meist nicht um ein Naturereignis, sondern ist die Ursache technisches Versagen, Fahrlässigkeit oder kriminelle Energie. Dinge, gegen die man etwas tun kann und denen man nicht hilflos ausgesetzt ist. Dennoch wurde in diesem Kontext an vielen Stellen die Frage nach der Sinnhaftigkeit und der Verhältnismäßigkeit gestellt. Das lag auch daran, dass die Zahlen sinken, doch auch die Terrorgefahr ist ebenfalls nicht unverhältnismäßig stark gestiegen - im Gegenteil.

Dabei geht es nicht nur darum zu sagen: "Es ist viel wahrscheinlicher, dass man durch einen vergifteten Pilz stirbt als..." Doch festzustellen, dass sowohl Debatte als auch gesellschaftliche und politische Reaktionen am Ende dem nahe kommen, was Terroristen als eigene Zielvorstellung begreifen. 

Im sicherheitspolitischen Bereich scheint die Frage der Verhältnismäßigkeit noch zu oft unter den Tisch zu fallen. Technische Machbarkeit ist gegeben, die Gefahr eben unhinterfragt und -reflektiert da. Dabei geht es ja um die Frage, ob die Freiheit, sich in der Öffentlichkeit anonym zu bewegen, zerstört werden sollte, um die Aufklärungsquote von Straftaten zu erhöhen. Die Abwendung einer unmittelbaren Gefahr dürfte trotz aller Beteuerungen sehr selten eine Rolle spielen. 

Während man bei Rauchmeldern also leidenschaftlich über Sinn und Form gestritten hat, droht bei der biometrischen Gesichtserkennung eine schnelle und viel zu wenig diskutierte Einführung. Woran sich dann die Frage anschließt: Kann die Technik denn wirklich, wie von Ministerium und Bundespolizei festgestellt, ohne weiteres eingesetzt werden? 

Dazu heißt es im Abschlussbericht:
Die Falschtrefferraten (z.B. System erkennt Person A, es handelt sich jedoch um Person B) liegen durchschnittlich bei unter 0,1%. Das bedeutet, dass bei 1000 Abgleichen auf einem Bahnhof lediglich ein einziger Abgleich durch das System fehlerhaft erkannt wird. Dieser Wert lässt sich aber durch Kombination verschiedener Systeme technisch auf bis zu 0,00018% und damit auf ein verschwindend geringes Maß reduzieren. Die Systeme haben sich damit für einen Einsatz im Polizeialltag bewährt.
Die erste Zahl muss man gar nicht in einen besonderen Kontext stellen, um die Bedrohung für die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger und ein völlig verändertes Gefühl gegenüber der Polizei vorauszusehen. Bei 1.000 Abgleichen ein Fehler - würde man den Bahnhof Berlin Alexanderplatz überwachen, käme man potentiell auf weit mehr als 300 Menschen, die Tag für Tag fälschlicherweise  - wegen schwerer und schwerster Straftaten - ins Visier der Polizei geraten. Denn täglich strömen mehr als 365.000 Menschen über den Alex

Nimmt man die zweite Zahl, die durch die Kombination verschiedener Systeme zustande kommt, kommt es laut Abschlussbericht auf einem Bahnhof mit 20 installierten Kameras und einer Benutzerfrequenz von 15.000 Personen pro Tag und Kamera im Durchschnitt zu 0,54 Falschtreffer an einem Tag. Damit würde also theoretisch jeden zweiten Tag eine Person unberechtigterweise mit einer gesuchten Person verwechselt.

Es erhöht auch nicht das Vertrauen, dass kein System allein in der Lage ist solche - je nach Wertung - akzeptablen Ergebnisse zu produzieren.

Nun kann man sich persönlich ausrechnen, ob der potentielle Sicherheitsgewinn eine solche Einführung rechtfertigt, oder man lieber weiterhin einigermaßen anonym in der Öffentlichkeit unterwegs wäre. Das Argument, dass man ja freiwillig das Smartphone in der Tasche trägt und so jegliche Anonymität zunichte macht, ist ernst zu nehmen und auch von Belang. Doch solange noch kein Chip unter der Haut implantiert ist, kann man es auch zu hause lassen und so der privaten Überwachung entgehen. Wie so oft, wird dies ohnehin nur der erste Schritt sein:
Mit Blick auf den hierdurch zu erzielenden Sicherheitsgewinn sollten Überlegungen angestellt werden, in welchen weiteren gesetzlichen Aufgabenbereichen der Bundespolizei die Möglichkeiten biometrischer Gesichtserkennung genutzt werden könnten.
Apropos private Überwachung:
Im Rahmen des gemeinsamen Pilotprojektes "Sicherheitsbahnhof Berlin Südkreuz" von Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, Bundespolizei und Deutsche Bahn AG wird der Nutzen von intelligenter Videoanalysetechnik für polizeiliche und unternehmerische Zwecke erprobt. Das Bundeskriminalamt berät hierbei.
Ergänzung vom 16.10.2018: Der Chaos Computer Club erhebt schwere Vorwürfe zu den Ergebnissen des Berliner Tests zur biometrischen Videoüberwachung: Sie seien "manipuliert" worden. Und: Jürgen Hermes, Geschäftsführer am Institut für Digital Humanities an der Universität zu Köln, hat anhand der veröffentlichten Zahlen einige Beispielrechnungen durchgeführt und die Ergebnisse als recht katastrophal bezeichnet. Beide Links via heise.de.

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