Sonntag, 19. Juni 2016

Tagesschau und Flüchtlinge: Eine Meldung und keine Geschichte

Nein, die Tagesschau kann nichts dafür. Und nein, es ist auch nicht bei jedem unglücklichen Satz, jedem falsch gewählten Wort ein Aufschrei nötig. Doch die kleinen Auffälligkeiten verdichten sich mittlerweile zu einem Gesamtbild, das nahe legt, dass wir den Narrativ der "Flüchtlingskrise" gefunden haben. Die Tagesschau ist ein Teil davon, aber nicht dessen Ursache.

In der gestrigen Tagesschau-Ausgabe ging es im dritten Beitrag zunächst um Griechenland. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon besuchte das Flüchtlingslager auf Lesbos und warnte davor weiter systematisch Menschenrechte zu verletzen. Der Beitrag machte auf eine Situation aufmerksam, die bei den meisten Menschen schon wieder aus dem Gedächtnis verschwunden ist. Norbert Blüm im Zelt in Idomeni ist Wochen her, EM und Terror haben nun unangefochten die höchsten Nachrichtenwerte. So weit, so gut.

Dann kam folgende Meldung (Minute 6:08): "Frontex rechnet mit 300.000 Flüchtlingen". Unproblematisch eine Prognose zu thematisieren, sollte man meinen. Doch sie dauert kaum 30 Sekunden und hat folgenden Wortlaut:

Die europäische Grenzschutzagentur Frontex schätzt, dass dieses Jahr rund 300.00 Migranten per Boot übers Mittelmeer in die EU kommen. Für die hohe Zahl von Bootsflüchtlingen sei auch die intesivere Überwachung und Seenotrettung durch die EU verantwortlich, berichtet die BILD-Zeitung unter Berufung auf Frontex-Direktor Rösler. Viele Flüchtlinge würden sich darauf verlassen im Notfall von Rettungsschiffen in Sicherheit gebracht zu werden. 

Das wars.
Kurz und simpel.
Was ist die Botschaft dieser 27 Sekunden?

Die Zahl zu nennen - wenn auch geschätzt und mit Vorsicht zu betrachten - ist wie gesagt völlig in Ordnung. Doch dann eine Information inklusive BILD-Interpretation zu präsentieren, ist zurückhaltend formuliert schwierig.

Sicher, mehr Überwachung und Präsenz erhöht die Fallzahl, das ist bei den meisten Sachverhalten so. Das heißt aber natürlich nicht, dass nicht jede Woche trotzdem Flüchtlinge ertrinken. Es geht aber vor allem um den Schlusssatz. Sie würden sich darauf verlassen in Sicherheit gebracht zu werden.

"Ja was glauben diese Flüchtlinge eigentlich? Verlassen sich einfach darauf, dass sie gerettet werden, wenn sie am Ertrinken sind? Lassen sich einfach von uns retten, wenn sie in Not sind? Soweit ist es also schon gekommen."

Nicht nur, dass der Gehalt des Schlusssatzes bezweifelt werden muss. Gab es eine repräsentative Umfrage? In Syrien? In Libyen? Nachdem Menschen aus dem Wasser gezogen wurden? Sondern es geht auch um die Frage, was die Konsequenz daraus sein soll? Nicht mehr zu retten?

Solche - gefühlt hohe Zahlen - zu präsentieren und das Problem bzw. die Ursache in der Rettung von geflüchteten Menschen zu verorten, das erfordert schon einiges an, sagen wir, Unbedarftheit. Ohne weitere Hintergründe, ohne Zahlen, wie viele Menschen ertrinken und fliehen. Caterina Lobenstein schrieb schon Anfang Juni treffend in der ZEIT:

Der Konsens, der das möglich macht, verbirgt sich hinter den lautstarken Debatten. Man bemerkt ihn immer dann, wenn Stille herrscht.
...
Nach einem Jahr Flüchtlingskrise ist klar: Auch Empörung hat ihre Außengrenzen.

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