Samstag, 18. Juni 2016

#FluechtlingeFressen #Flugbereitschaft: Augen zu, Mund zu und durch

Es ist verwunderlich still vorm Gorki-Theater an diesem Samstagnachmittag. Die Sonne zeigt sich, die Temperatur ist angenehm, doch das Spektakel, #NotundSpiele, suchen nur ein Dutzend Menschen. Es sind vor allem Touristen, die eher zufällig vor der Glasscheibe stehen und nach den Tigern Ausschau halten. Die lassen sich auch nicht blicken, möglicherweise sind ihnen die paar Schaulustigen zu wenig.


Dabei sind doch schon Schlagworte gefallen, die eigentlich Massen anziehen. „Kannibalismus“ oder „Volksverhetzung“, diese Worte seien seitens der Behörden genannt worden, berichten die Aktivisten des Zentrums für politische Schönheit im Gespräch. Mehr als ein paar Plakate wurden aber bisher nicht beanstandet. Die B.Z. berichtete bereits vom Abbau am Montag, doch davon gehen die Macher derzeit nicht aus.

Screenshot flugbereitschaft.de
Die Aktion des Zentrums hat dabei mehrere Bedeutungsebenen. Die öffentliche „Fütterung“ als Demonstration der Normalität des Sterbens von Menschen, die flüchten. Mit der dem Flugzeug der "Flugbereitschaft der deutschen Zivilgesellschaft", der Joachim 1, sollen Menschen aus der Türkei direkt nach Deutschland gebracht werden und der Bundestag wird dafür aufgefordert  § 63 Abs. 3 des Aufenthaltsgesetzes zu streichen bzw. so zu verändern, dass der Direktflug möglich wird. Dazu wird der Bundespräsident zum Handeln aufgefordert. Für jeden ist also etwas dabei.

Woher also das eher überschaubare Interesse (bei den Abendrunden wird mutmaßlich mehr los sein) und der ausbleibende Aufschrei (immerhin, das Bundesinnenministerium hat die Aktion als "unangemessen und zynisch" bezeichnet)? Oder die zumeist unbeholfenen Abwehrbewegungen von Nutzerinnen und Nutzern in sozialen Netzwerken? „Geschmacklos“, „Zynisch“, „Menschenverachtend“ sei das alles, erwartbare Schlagworte. Bei der neuen Aktion kommen noch ein paar Vorwürfe der Tierquälerei hinzu.

Ein wenig Meta-Kritik also, an der zugespitzten Form (Es haben sich angeblich bereits zwei Flüchtlinge gemeldet, die sich fressen lassen wollen), an den satirischen Übertreibungen („Alle EM-Spiele werden live und in Farbe übertragen“), an der Tatsache, dass Wildtiere öffentlich unter diesen Bedingungen vorgeführt werden. Doch eine echte Empörung, breite Kritik bleibt aus. Das war im Sommer bei der Aktion #DieTotenKommen noch anders. Das gefährdet das Ziel des ZPS eine mediale Auseinandersetzung auszulösen und in Gang zu halten. 


Die Entscheidung des Bundesrates vom Freitag zu "Gaffern" am Unfallort scheint mehr Menschen zu interessieren, als die Aktion des ZSP; Quelle: Google Trends

Nimmt man zur obigen Suche noch Joachim Löws Griff ins Gemächt hinzu, zeigen sich die Prioriäten der Öffentlichkeit deutlich; Quelle: Google Trends
Es ist der Beweis, dass die Öffentlichkeit, Bürgerinnen und Bürger, aber auch die Politik, im Innersten weiß, dass sie heuchlerisch agiert. Das Sterben auf dem Mittelmeer hat schon vor Jahren begonnen. Und es ist bereits wieder mehr als anderthalb Jahre her, dass die Öffentlichkeit sagte: „Bis hierher und nicht weiter.“ Die Bilder ertrunkener Menschen, Familien und Kindern sollten sich nicht wiederholen.

Dieser Satz hat sich als prägend für die vergangenen Monate entpuppt. Aber nicht was das Sterben und die Menschenrechtsverletzungen betrifft, sondern den Umgang mit den Menschen an sich. „Bis hierher und nicht weiter“ bezieht sich mittlerweile auf die Außengrenzen, Abschottungspolitik wird ganz offen und vielfältig exekutiert, von Rücknahmeabkommen, über Ausrüstung von Drittländern bis hin zur Grenzschließung.

Hier wird mit dem stillschweigenden Einverständnis der Mehrheit eine Politik gemacht, die jegliche echte Kritik an einer solchen Aktion im Keim erstickt. Natürlich mag es zynisch anmuten Geflüchtete Tigern zum Fraß vorzuwerfen. Zu voten, wer möglicherweise ein Flugzeug besteigen darf, und wer nicht. Doch es ist eine konsequente Haltung, die sich an der Realität orientiert. Eine nachvollziehbare Schlussfolgerung aus der aufmerksamen Beobachtung der politischen Entscheidungen und der öffentlichen Debatte. Dagegen lässt sich kaum etwas sagen. 



Die Menschen ertrinken im Mittelmeer, verdursten in der Wüste. Bleiben perspektivlos oder getrennt von ihrer Familie in Flüchtlingslagern stecken, geraten nach ihrer Flucht aus einem Konfliktgebiet in die Abhängigkeit von Schleppern oder arbeiten unter schlimmsten Bedingungen.

Daran hat sich in den vergangenen Monaten und Jahren nichts geändert. Im Gegenteil. Das Asylrecht wird weiter verschärft, Zugangswege blockiert und zweifelhafte Abkommen zur Abschottung getroffen. Es gehört schon eine Menge Mut (oder Ignoranz) dazu, bei der neuen ZPS-Aktion empört „Halt“ zu rufen und sie zu verurteilen. #NotundSpiele, ob gewollt oder nicht, wir haben sie verdient.

Vielleicht spüren die Menschen das und meiden darum die direkte Konfrontation. Einfach wegschauen. Vielleicht bleibt deswegen die Kritik leise und bemüht, weil die eigene Schuld bitter am Gaumen klebt. Einfach den Mund halten. Dann wird auch diese unangenehme Begegnung mit dem realen Leid um uns herum vorübergehen.

Diese Haltung ist es, die den einfach Schluss nahe legt, dass nur die Bilder eines Tigers mit dem Fleisch eines geflüchteten Menschen zwischen den Zähnen uns noch aufrütteln können. Oder vielleicht sind am Ende auch die in Ordnung, unangenehm aber auszuhalten, und dann haben wir die Gewissheit, dass wir als Gesellschaft nicht mehr brauchen -  und nichts anderes verdienen - als Brot und Spiele. 



Update vom Sonntag, den 19.07.2016:

Die gestrige Tagesschau in der Halbzeit ließ sich in diesem Zusammenhang ebenfalls als (unfreiwillig) zynisch bezeichnen. Statt der Aktion des ZPS wurde über die Installation von Christo berichtet. Seine “Floating Piers” ermöglichen den Menschen übers Wasser zu laufen.

Und: Die BILD-Zeitungsmeldungen mehren sich nun doch. 

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