Etwa 5.000 Menschen sollen gestern bei der Aktion des Zentrums für politische Schönheit gewesen sein. 5.000 Menschen, die für eine humanere Flüchtlingspolitik auf die Straße gingen. Unter dem Motto #dietotenkommen sollte ein Grabfeld vor dem Kanzleramt angelegt werden. Dass das Modell einen wirklich passenden und angemessenen Ort für die Trauer um die Tausende Toten darstellen würde, soll hier nur Randnotiz sein.
Was wurde nicht schon alles zu Grabe getragen. Die Bildung, das Gesundheitssystem, nun eben Flüchtlinge. So denken sich manche, die mit dem Protest so gar nichts anfangen können und dies tun sie am Rande des Protestzugs auch kund. Auch in Ordnung. Verwirrend ist nur die Berichterstattung der Medien, die sich wie erwartet mit der Aktion beschäftigen und das auch im Vorfeld ausgiebig tun, damit gewissermaßen "Werbung" machen, um im Nachgang die Darstellungsform und Herstellung öffentlicher Aufmerksamkeit zu kritisieren.
Kritische Distanz von Journalisten ist immer erwünscht. Die scheint aber in manchen Nachberichten ein wenig verloren gegangen zu sein. Im Artikel von Lenz Jacobsen für die ZEIT heißt es zum Beispiel:
Der Kommentar der Süddeutschen Zeitung geht noch weiter. Hannah Beitzer kommt unter dem Titel "Die Mittel schaden dem Zweck" zu folgendem Schluss:
Nun schreibt Beitzer, es würde ja allerorten diskutiert und alle seien sehr bemüht aufgeklärt und mit der richtigen Einstellung das Problem zu durchleuchten und nach Lösungen zu suchen. Auch Jacobsen schreibt, es sei doch bereits ein Großthema. Der 20. Juni sei Gedenktag seitens Bundesregierung und UN. Doch das ist er bei den Vereinten Nationen seit 2001, in Deutschland wurde bisher schon am 19. Januar oder am 26. September an Flüchtlinge erinnert. Verordnetes Gedenken ist zunächst einmal bedeutungslos.
Auch hier gilt vielmehr: Die Hunderte Toten vor Lampedusa sind kein Ereignis von 2015. Ja, auch. Doch bereits 2013 ertranken bei "dem Unglück vor Lampedusa" mehr als 500 Flüchtlinge, die breite Öffentlichkeit nahm Anteil daran. Die Jahre zuvor starben die Menschen noch weitgehend unbemerkt. Wenn sich nicht substantiell etwas ändert und das bedeutet mehr als eine Rettungsmission und Militär gegen Schlepper, dann werden auch 2016 und 2017 bedrückende Bilder von der kleinen Insel gesendet werden.
Es ist nicht das Argument "Der Zweck heiligt die Mittel", oder wie von Beitzer, dass die "Mittel dem Zweck" schaden, das hier angebracht ist. Denn die Mittel sind doch ganz Gewöhnliche. Wie oben erwähnt, Särge werden gerne durchs Regierungsviertel begraben, die Nutzung sozialer Medien ist eben für Bewegungen und Initiativen der einfachste Weg Menschen zu mobilisieren. Im gestrigen Falle vor allem junge Menschen (von denen viele sicher auch "sehen wollten, was die da so machen" oder "Teil einer solchen Aktion" sein wollten).
Ohne die Überzeugung, dass die Regierungen Europas eine inakzeptable Flüchtlingspolitik machen, hätten sie sich jedoch kaum dem Marsch angeschlossen. Denn so spektakulär war es nun auch nicht, auch wenn Berichte dies gerne anders schildern. Der Zaun fiel innerhalb von zehn Sekunden und der "große Spaziergang" flutete die Wiese vor dem Reichstag. Manche schaufelten die angekündigten Löcher, die meisten schauten zu und machten Fotos (daran sollte man sich wohl in einer Welt in der alles visualisiert werden muss, um angemessen "geteilt" zu werden, gewöhnen).
Das Entscheidende: sie gingen an einem Sonntagmittag auf die Straße. Die zentral koordinierte und von Dutzenden Gruppen unterstützte Demo für Frieden im vergangenen Dezember bekam 4.000 Menschen auf die Straße. 2013 unterstützten Zehntausende auf Facebook Aktionen für Frieden in Syrien, nur ein paar Hundert gingen auf die Straße. Gegen Massenüberwachung fanden sich im vergangenen August nur etwa 3.000 Menschen vor dem Brandenburger Tor wider, 81 Organisationen hatten ein Jahr nach den Enthüllungen Edward Snowdens zum Massenprotest aufgerufen.
Insofern ist dem Zentrum für Politische Schönheit etwas gelungen, was heute eben keine Selbstverständlichkeit mehr ist - ein gesellschaftliches Anliegen auf die Straße zu bekommen. Vor allem eins, das einen nicht unmittelbar betrifft (Angst vor dem GAU, Gammefleisch oder die kurz bevor stehende Islamisierung des Abendlandes bzw. der unmittelbaren Nachbarschaft), und zu unkonkret oder kompliziert ist.
Dass dabei manche auch ihr Ego streicheln - auch hier, man zeige eine Bewegung oder Veranstaltung, wo dies nicht der Fall ist. Wenn nun aber in anderen Städten plötzlich Gräber auftauchen, die Toten im Mittelmeer im öffentlichen Raum sichtbar werden und noch mehr Menschen für einen anderen Umgang mit Flüchtlingen auf die Straße gehen, dann fällt es schwer, die Kritikpunkte der Berichterstattung wirklich ernst zu nehmen.
So wirkt sie denn ein wenig reflexhaft. Angemessener und nachvollziehbarer wäre sie, wenn sie sich ernsthaft mit dem Zustand der Diskussion im öffentlichen Raum, den Mechanismen der Medienberichterstattung, der zyklischen ARD-Brennpunkt-Betroffenheit der Bevölkerung und einer Politik, die auch eigentlich nicht zu tolerierende Zustände absorbieren und mit den eigenen Standpunkten vereinbaren kann, beschäftigen würde.
Sichtbarer Protest kann dabei helfen, solche Diskussionen zu führen. Wer es dann staatstragender, ernsthafter und "angemessener" haben mag - bald ist ja wieder Sonntag.
"Das Friedhofsfeld der unbekannten Einwanderer": Bloßes Fotomotiv oder Ausdruck ernsthafter Anteilnahme? Wie wichtig ist diese Unterscheidung? Und lässt sich das angesichts der Vermischung von realer und virtueller Welt noch wirklich trennen?
Was wurde nicht schon alles zu Grabe getragen. Die Bildung, das Gesundheitssystem, nun eben Flüchtlinge. So denken sich manche, die mit dem Protest so gar nichts anfangen können und dies tun sie am Rande des Protestzugs auch kund. Auch in Ordnung. Verwirrend ist nur die Berichterstattung der Medien, die sich wie erwartet mit der Aktion beschäftigen und das auch im Vorfeld ausgiebig tun, damit gewissermaßen "Werbung" machen, um im Nachgang die Darstellungsform und Herstellung öffentlicher Aufmerksamkeit zu kritisieren.
Kritische Distanz von Journalisten ist immer erwünscht. Die scheint aber in manchen Nachberichten ein wenig verloren gegangen zu sein. Im Artikel von Lenz Jacobsen für die ZEIT heißt es zum Beispiel:
In der Rhetorik des Zentrums für politische Schönheit sind die europäischen Bürokraten und Politiker die Mörder. Direkt und allein verantwortlich für jede Leiche, die im Mittelmeer schwimmt.Sicherlich ist es eine gewollte Übertreibung der Organisatoren oder mancher TeilnehmerInnen, doch diese haben sich fast alle Protestbewegungen, ob Umwelt- oder Friedensaktivisten, zu eigen gemacht. Wo tatsächliche indirekte Verantwortung endet und direkte Schuld anfängt, damit befasste sich kürzlich in einem lesenswerten Artikel der Bundesrichter Thomas Fischer. Der kommt zum Schluss, dass die Antwort komplizierter ist, als man gemeinhin denkt. So bleibt der Eindruck, es wird etwas kritisiert, was sonst unbeachtet "durchgeht"
Der Kommentar der Süddeutschen Zeitung geht noch weiter. Hannah Beitzer kommt unter dem Titel "Die Mittel schaden dem Zweck" zu folgendem Schluss:
Warum überhaupt musste das ZPS sich so selbstgewiss als Tabubrecher und Deutschlandaufwecker inszenieren? Die Künstler hätten sich einfach auf ihre in der Tat sehr schöne Grundidee konzentrieren können: Menschen, die an den Grenzen Europas gestorben sind, im Herzen des Kontinents zu beerdigen. Ohne Hashtags, ohne öffentliches Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei, ohne demonstrativ aufgebaute Ehrentribüne für abwesende Politiker, ohne prägnant formulierte Schuldzuweisungen samt Rücktrittsforderungen, ohne das ständige Sich-Selbst-Abfeiern im Netz. Das wäre immer noch spektakulär gewesen und hätte zudem tatsächlich Raum zum Nachdenken gelassen - weil es die einzig wahre und richtige Interpretation der Aktion nicht gleich mitgeliefert hätte. So aber heiligt nicht der Zweck die Mittel, sondern die Mittel schaden dem Zweck.Vielleicht, weil weiter täglich Hunderte Menschen vom Ertrinken bedroht sind? Niemand sollte sich die Illusion machen, dass fehlende Berichte bedeuten, dass keine Menschen mehr ertrinken. Vielleicht, weil nun die Militärmission in ihre erste Phase geht, während die europäischen Staaten weit entfernt davon sind, einen echten Kompromiss in der Neuregelung des Asylsystems zu treffen? Eventuell aufgrund der Tatsache, dass 86 Prozent aller Flüchtlinge in ärmeren Nachbarländern versorgt werden und wir offenbar unserer globalen Verantwortung kaum nachkommen?
Der Grad von Anteilnahme und Instrumentalisierung ist schmal und die Zahl der Fotoapparate hoch: entscheidend wird sein, was davon bleibt. Zunächst ein paar sichtbare Zeichen im öffentlichen Raum.
Nun schreibt Beitzer, es würde ja allerorten diskutiert und alle seien sehr bemüht aufgeklärt und mit der richtigen Einstellung das Problem zu durchleuchten und nach Lösungen zu suchen. Auch Jacobsen schreibt, es sei doch bereits ein Großthema. Der 20. Juni sei Gedenktag seitens Bundesregierung und UN. Doch das ist er bei den Vereinten Nationen seit 2001, in Deutschland wurde bisher schon am 19. Januar oder am 26. September an Flüchtlinge erinnert. Verordnetes Gedenken ist zunächst einmal bedeutungslos.
Auch hier gilt vielmehr: Die Hunderte Toten vor Lampedusa sind kein Ereignis von 2015. Ja, auch. Doch bereits 2013 ertranken bei "dem Unglück vor Lampedusa" mehr als 500 Flüchtlinge, die breite Öffentlichkeit nahm Anteil daran. Die Jahre zuvor starben die Menschen noch weitgehend unbemerkt. Wenn sich nicht substantiell etwas ändert und das bedeutet mehr als eine Rettungsmission und Militär gegen Schlepper, dann werden auch 2016 und 2017 bedrückende Bilder von der kleinen Insel gesendet werden.
Es ist nicht das Argument "Der Zweck heiligt die Mittel", oder wie von Beitzer, dass die "Mittel dem Zweck" schaden, das hier angebracht ist. Denn die Mittel sind doch ganz Gewöhnliche. Wie oben erwähnt, Särge werden gerne durchs Regierungsviertel begraben, die Nutzung sozialer Medien ist eben für Bewegungen und Initiativen der einfachste Weg Menschen zu mobilisieren. Im gestrigen Falle vor allem junge Menschen (von denen viele sicher auch "sehen wollten, was die da so machen" oder "Teil einer solchen Aktion" sein wollten).
Protestzug, Happening, Sonntagsspaziergang, Aktionskunst - oder eine Mischung aus allem
Ohne die Überzeugung, dass die Regierungen Europas eine inakzeptable Flüchtlingspolitik machen, hätten sie sich jedoch kaum dem Marsch angeschlossen. Denn so spektakulär war es nun auch nicht, auch wenn Berichte dies gerne anders schildern. Der Zaun fiel innerhalb von zehn Sekunden und der "große Spaziergang" flutete die Wiese vor dem Reichstag. Manche schaufelten die angekündigten Löcher, die meisten schauten zu und machten Fotos (daran sollte man sich wohl in einer Welt in der alles visualisiert werden muss, um angemessen "geteilt" zu werden, gewöhnen).
Das Entscheidende: sie gingen an einem Sonntagmittag auf die Straße. Die zentral koordinierte und von Dutzenden Gruppen unterstützte Demo für Frieden im vergangenen Dezember bekam 4.000 Menschen auf die Straße. 2013 unterstützten Zehntausende auf Facebook Aktionen für Frieden in Syrien, nur ein paar Hundert gingen auf die Straße. Gegen Massenüberwachung fanden sich im vergangenen August nur etwa 3.000 Menschen vor dem Brandenburger Tor wider, 81 Organisationen hatten ein Jahr nach den Enthüllungen Edward Snowdens zum Massenprotest aufgerufen.
Insofern ist dem Zentrum für Politische Schönheit etwas gelungen, was heute eben keine Selbstverständlichkeit mehr ist - ein gesellschaftliches Anliegen auf die Straße zu bekommen. Vor allem eins, das einen nicht unmittelbar betrifft (Angst vor dem GAU, Gammefleisch oder die kurz bevor stehende Islamisierung des Abendlandes bzw. der unmittelbaren Nachbarschaft), und zu unkonkret oder kompliziert ist.
Dass dabei manche auch ihr Ego streicheln - auch hier, man zeige eine Bewegung oder Veranstaltung, wo dies nicht der Fall ist. Wenn nun aber in anderen Städten plötzlich Gräber auftauchen, die Toten im Mittelmeer im öffentlichen Raum sichtbar werden und noch mehr Menschen für einen anderen Umgang mit Flüchtlingen auf die Straße gehen, dann fällt es schwer, die Kritikpunkte der Berichterstattung wirklich ernst zu nehmen.
— Jessi Messinger (@jessimessenger) 22. Juni 2015
Sichtbarer Protest kann dabei helfen, solche Diskussionen zu führen. Wer es dann staatstragender, ernsthafter und "angemessener" haben mag - bald ist ja wieder Sonntag.
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