Donnerstag, 17. Juni 2010

Zahl der Opfer in Kirgistan steigt weiter - mehr als 275.000 Menschen flüchten aus Angst vor weiterer Gewalt


Die Zahl der Todesopfer der Kämpfe in Kirgistan liegt mittlerweile bei mindestens 191. Das Gesundheitsministierum sagte, dass zudem fast 1000 Menschen in Krankenhäusern versorgt werden mussten. Nach inoffiziellen Zahlen soll die Todeszahl aber weitaus höher liegen, da viele Menschen ihre toten Angehörigen ohne die Behörden zu informieren, bestatteten. Das schlecht ausgebildete und ausgerüstete Militär hat die Ausschreitungen der kirgisischen Bevölkerungsmehrheit gegen die usbekische Minderheit nur mit viel Mühe stoppen können. Dazu gestern die Agentur AP:


Mehr als 80.000 usbekischstämmige Bürger sollen ins benachbarte Usbekistan geflohen sein., insgesamt verließen mehr als 275.000 Menschen ihre Behausungen, um sich in Sicherheit zu bringen. Menschenrechtsaktivisten sprachen von einer ethnischen Säuberung. Es soll etwas Ruhe eingekehrt sein, doch vom Frieden und einer angemessenen Versorgung der Vertriebenen ist man offenbar noch weit entfernt. Im Interview mit der NZZ sagte der Mitarbeiter Siroco Messerli der Entwicklungsorganisation Helvetas zur Lage im Land:
Wie ist es eigentlich losgegangen?
Ein Helvetas-Mitarbeiter war am Donnerstagabend in Osch auf der Strasse. Um 21 Uhr ging er nach Hause, alles war ruhig. Um 23 Uhr wurde geschossen und Häuser wurden angezündet, an vier verschiedenen Orten gleichzeitig. Wie kommt es zu so etwas, mitten in der Nacht? Alles deutet auf eine gezielte Provokation hin. Von wem sie ausging, weiss ich nicht. Am Tag dann fuhren Autos durch die Stadt mit Bewaffneten. Sie trugen schwarze Masken und schossen auf Passanten, auf Usbeken und Kirgisen gleichermassen – um ethnische Spannungen zu verursachen. Diese gab es allerdings schon früher. Bereits 1990 kam es zu Unruhen in Osch, noch zu sowjetischer Zeit.
Und jetzt werden also die Usbeken vertrieben?
Das scheint so, an mehreren Orten. Viele Häuser in den usbekischen Vierteln in Osch und Dschalalabad und in usbekischen Dörfern wurden systematisch niedergebrannt. Angeblich sind dabei auch manche Leute in ihren Häusern verbrannt.
Wie schätzen sie die Lage jetzt ein?
Es ist schwierig, die Lage einzuschätzen. Wir haben einzelne Informationen, aber nicht wirklich den Überblick. Sicher ist der Konflikt sehr blutig, und es gibt viele Flüchtlinge. Aber man kann nur schwer unterscheiden zwischen Fakten und Gerüchten: Was haben die Leute selbst gesehen? Was haben sie nur gehört? Gerüchte verbreiten sich schnell. Sicher werden auch gezielt Gerüchte gestreut. Erzählungen über Gräueltaten eignen sich um Hass zu schüren.
Ist denn ein Abflauen der Gewalt feststellbar?
Es scheint, dass in den Städten Osch und Dschalalabad die Regierung wieder einigermassen die Kontrolle hat. Im Land draussen gibt es weiter Schiessereien, an Strassensperren und in einigen Dörfern. Insgesamt ist es vielleicht etwas ruhiger geworden – aber ich traue der Ruhe nicht. Bevor es losging, war es auch ruhig.
Der Freitag macht Korruption, westliche Berater und eine verfehlte Wirtschaftspolitik mitverantwortlich für den Konflikt in Kirgistan. Ulrich Heyden schreibt:
Der Westen ist schockiert von den Entwicklungen in Kirgistan, bleibt aber Erklärungen schuldig, wie es soweit kommen konnte. Wurde Kirgistan nicht vor kurzem noch als Musterland, als die „Schweiz Zentralasiens“ gepriesen? Derartige Lobpreisungen kamen etwa von dem schwedischen Ökonomen Anders Aslund, der den kirgisischen Präsidenten Askar Akajew sieben Jahre lang beraten hatte. Solange, bis der 2005 gestürzt wurde. In einem Jubel-Aufsatz für die Moscow Times schrieb der Ökonom im April: „Kirgistan ist eines der attraktivsten post-sowjetischen Länder und das einzige Land Zentralasiens welches frei ist. Die Bevölkerung ist warmherzig und gut ausgebildet, die Zivilgesellschaft und die Offenheit entwickeln sich so wie nirgends sonst in der früheren Sowjetunion.“ Es gäbe zwar eine hohe Korruption, aber die lasse sich mit dem konsequenten Aufbau demokratischer Strukturen stoppen. Vorbild sei der Präsident von Georgien, Michail Saakaschwili.
Der Politologe Nur Omarow von der Kirgisisch-Russischen Universität in Bischkek zeigt ein völlig anderes Bild. Schon seit 2007 herrschte in Kirgistan eine „humanitäre Katastrophe“, schrieb der Wissenschaftler im Februar 2009 in einem Aufsatz für die Zentralasien-Nachrichten. Das UN-Büro zur Koordination humanitärer Angelegenheiten habe die Geber-Gemeinschaft im Dezember 2008 dazu aufgerufen, 21 Millionen Dollar zur Unterstützung der besonders armutsgefährdeten Bevölkerungsschichten bereit zu stellen. Eine Million Menschen litten unter Lebensmittelknappheit.
Die Städte Osch und Daschal Abad, wo es zu den blutigen Pogromen kam, liegen im Fergana-Tal mit fruchtbaren Böden und zwei bis drei Ernten. Eines der am dichtesten besiedelten Gebiete Zentralasiens. Dort mischen sich die sozialen Probleme zusätzlich mit ethnischen Konflikten. Ein Grund: Das Tal wurde 1936 unter den Republiken Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan aufgeteilt. Dadurch gibt es in allen drei Staaten starke nationale Minderheiten. Heute ist im Fergana-Tal alles knapp, auch Land, auch Wasser.
Hinzu kommt die organisierte Kriminalität, denn durch das Fergana-Tal und die Stadt Osch läuft eine Drogen-Route. Senisch Bakijew, der Bruder des gestürzten Präsidenten Bakijew, soll den gesamten Drogen-Transfer in Kirgistan kontrollieren.
Die umliegenden Staaten, allen voran Russland, zögern noch, Truppen nach Kirgistan zu entsenden. Der konservative Think-Tank Stratfor beschäftigt sich mit den regionalen Folgen der anhaltenden Gewalt und der Rolle Russlands und Usbekistans:

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