Mittwoch, 4. Januar 2017

Das Märchen vom "Wir schaffen das" - neu erzählt

Das Jahr 2017 ist noch jung. Die Jahresrückblicke könnten noch ganz nah sein, doch die Anschläge in Istanbul und Berlin und der Sturm auf Aleppo haben das Meiste schnell verblassen lassen. Ein paar verstobene Prominente finden in unserer Erinnerung noch Platz - das war es dann.

Was ist also 2016 in der Frage, die offenbar die ganze Gesellschaft - alt und jung, arm und reich - umtreibt, passiert? Was ist mit "den Flüchtlingen", die bei vielen Weihnachtsessen Thema waren und zu einer (positiv ausgedrückt) Politisierung bzw. (negativ ausgedrückt) zu einer Polarisierung der Menschen beigetragen haben? Legen sie unsere öffentlichen Einrichtungen lahm, planen Anschläge und - fast das Schlimmste, wenn man manchem Politiker glauben darf - holen sie gar ihre Familie nach?

Das ist ein wenig polemisch, schließlich sind manche Kommunen tatsächlich überfordert (gewesen), oder hatte und hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Probleme Anträge zu bearbeiten. Auch wurden von Einzelnen Anschläge geplant oder verübt. Doch jeder und jede, die hier zustimmend mit dem Kopf nicken und das Ganze hinsichtlich der Terrorgefahr mit einem "Sag ich doch" quittieren, sei gesagt: Die taktischen Mittel von Terrorgruppen sind dynamisch und lassen sich aufgrund der niedrigen Hürde, was die Auswahl an Zielen angeht* leicht anpassen. Vielleicht würde eine 100-prozentige Abschottung das erschweren, aber dennoch nicht verhindern. Und 100 Prozent gibt es nicht einmal in der Exklave Ceuta, die 18,5 Quadratkilometer, also ungefähr so groß wie der Berliner Bezirk Kreuzberg-Friedrichshain, ist. Die grundsätzliche Vermischung zwischen Terrorismus und Flüchtlingsbewegungen macht entsprechend einfach keinen Sinn, vor allem weil die Ursachen des Terrorismus damit verdrängt werden.

"Wir schaffen das" verstellt Blick auf Realität

Kanzlerin Angela Merkel wird ihr Satz "Wir schaffen das" von interessierter Seite immer wieder aufs Neue vorgehalten. "Naiv", "gefährlich" oder "weltfremd" sei der gewesen. International wird sie dafür als Vorbild gelobt. Hier muss man nochmals deutlich machen, wie postfaktisch sich alle verhalten (oder sich schlicht lächerlich machen), die diesen Satz als Beweis für eine "unkontrollierte Zuwanderung" sehen. Als "verhängnisvollen Fehler" oder "Chronik eines Staatsversagens". Der Artikel "Merkel war es nicht" bietet hier Aufklärung. 

Doch die Reaktionen genügten, dass sie sich von diesem Satz distanzierte. Was ist denn tatsächlich passiert? Merkel sagte im August 2015 "Wir schaffen das" und mehr als eine Millionen Menschen kamen? Oder eskalierte u.a. der Krieg in Syrien, stürzte Afghanistan weiter ins Chaos und brach die internationale Gemeinschaft wie meistens ihre Versprechen Hilfsorganisationen angemessen zu finanzieren und damit Flüchtlingen in der Region eine Perspektive zu bieten?

In Zahlen drückt sich das Ganze so aus: Von Januar bis Dezember 2015 wurden im EASY-System des BAMF 1.091.894 Zugänge von Asylsuchenden erfasst. Die politische Diskussion wurde schriller, das Ende Deutschlands und Europas beschworen. Die Balkanroute wurde geschlossen, der EU-Türkei-Deal abgeschlossen, Grenzkontrollen eingeführt und der Familiennachzug stark erschwert. Im Ergebnis, dass zwischen Januar und November 2016 304.929 Zugänge von Asylsuchenden registriert wurden.

Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung

Auf der einen Seite gilt Merkel also als "Flüchtlingsfreundin", das heißt sie wird von Teilen ihrer eigenen Partei und allen, die sich weiter rechts positionieren, angefeindet. Links der Mitte dagegen überlegen viele sie bei den kommenden Bundestagswahlen zu wählen, um Schlimmeres zu verhindern und ihre scheinbar moderate bzw. progressive Flüchtlingspolitik zu stärken. Genau hier lässt sich das Märchen vom "Wir schaffen das" neu erzählen.

Denn 2016 sind zum Beispiel so viele Flüchtlinge wie nie zuvor über das Mittelmeer nach Italien gekommen. Mehr als 181.000 Menschen sei die gefährliche Reise gelungen, fast ein Fünftel mehr als im Vorjahr. 2016 war auch das tödlichste Jahr auf dem Mittelmeer. Es ist schlicht ein Ergebnis davon, dass noch nie so viele Menschen auf der Flucht waren wie heute. Mehr als 65 Millionen Menschen leben als Binnenvertriebene oder sind auf der Flucht. Dass die Zahlen hier nicht entsprechend steigen, zeigt, dass trotz aller Vorwürfe und Bekenntnisse der Versuch der Abschottung auf Hochtouren läuft. Und auch die Asylgesetzgebung ist restriktiver als je zuvor.

Der Kanzlerin sollte also der Applaus der Ewiggestrigen sicher sein, die am liebsten überhaupt keine Zuwanderung wollen, und wenn dann nur ein paar Wissenschaftler und Ingenieure gegen den sogenannten Fachkräftemangel ins Land lassen wollen. Stattdessen erntet sie bei der Schwesterpartei und in den eigenen Reihen weiter Gegenwind, bzw. sieht sich mit immer neuen Forderungen konfrontiert. 

Wie ist das möglich? Merkel hat die Zahl der Asylsuchenden massiv verringert, mit Mitteln, die an den so gerne beschworenen Werten Europas und Deutschlands rütteln. Wie ist eine öffentliche Debatte darüber, wie eine moderne und der Realität angepasste Einwanderungspolitik aussehen soll und welche moralischen und juristischen Verpflichtungen das Asylrecht nach sich zieht in dieser Umgebung möglich?

Es müsste doch heißen: "Kanzlerin Angela Merkel hat zur Beruhigung der Stammklientel und um die Abwanderung zur AfD zu stoppen restriktive Maßnahmen ergriffen und die Zahl der ankommenden Asylsuchenden um 60 Prozent verringert." Dann könnte man diskutieren, wie man das bewertet.

Stattdessen #DankeMerkel und #ArmesDeutschland von der einen Seite und Applaus für das Standhalten gegen die immer neuen Forderungen nach noch mehr Abschottung (die nicht möglich ist, siehe oben) von der Anderen. 

Es muss jede und jeder für sich selbst bewerten, welche Politik er oder sie sich hinsichtlich des Umgangs mit Menschen, die aufgrund von Krieg, Verfolgung, Armut, oder Perspektivlosigkeit ihre Heimat verlassen, wünscht (Offenheit und ein realistischer Blick auf die Geschehnisse in der Welt? Oder Abschottung und das Verschließen der Augen vor dem Leid von Millionen?).

Doch dazu wäre es notwendig die aktuelle Politik auch an der Realität zu messen und zu analysieren, statt sie als Bauchgefühl in die eigene ideologische Komfortzone einzubauen. 


* Verletzung oder Tötung weicher Ziele -> d.h. Symbolik mag wichtig sein, ist jedoch nicht das Entscheidende. Sollten Innenstädte zu Sperrzonen und jegliche Großereignisse zu Hochsicherheitsveranstaltungen werden, dann "genügen" eben auch Attacken in Regionalzügen oder auf beliebigen Marktplätzen, um die eigenen Ziele, wie Destabilisierung, Polarisierung und das Auslösen entsprechender außen- und sicherheitspolitischer Reaktionen zu erreichen.

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