Eine Untersuchungskommission der Vereinten Nationen hat der von Saudi-Arabien angeführten Koalition vorgeworfen, Anfang des Monats bewusst sog. "double tap"-Luftschläge auf eine Beerdigungsfeier im Jemen ausgeführt zu haben. In einem Bericht an den
UN-Sicherheitsrat, welcher IRIN vorliegt, spricht
die Kommission insbesondere bei dem zweiten Angriff der Koalition davon,
dass sie im Rahmen des humanitären Völkerrechts "ihre Pflichten
verletzt hat" und "keine wirksamen vorbeugenden Maßnahmen zur
Minimierung ziviler Opfer, inklusive von Ersthelfern" getroffen habe.
[Anmerkung: Mit "double-tap" ist gemeint, dass einige Minuten nach einem erstem Angriff ein weiterer folgt. Damit sollen dann die "first responders" getroffen werden. Im militärischen Kontext können dies weitere Kämpfer sein, im Normalfall werden aber Ersthelfer, Ambulanzen, Ärzte und Zivilisten getroffen. Bei Drohnenschlägen ist dieses Vorgehen verbreitet, aber auch Terroristen nutzen die Tatsache, dass nach einer Explosion meist eine weitere hohe Zahl von Opfern getroffen werden kann.]
Der Angriff in der Hauptstadt Sana’a tötete mehr als 100 Menschen [Der Angriff wurde Anfang Oktober ausgeführt und kostete vermutlich sogar mehr als 150 Menschen das Leben], darunter auch den Bürgermeister der jemenitischen Hauptstadt, mehrere hochrangige Offizielle, die Verbindungen zu den Houthi-Rebellen und ihrem Verbündeten, dem ehemaligen Präsidenten Ali Abdullah Saleh, haben, und viele Zivilisten.
Hunderte wurden verwundet und es folgte ein internationaler Aufruhr. Innerhalb von Stunden kündigte das Weiße Haus eine "sofortige Überprüfung" ihrer Unterstützung der Koalition an. Saudi-Arabien bestätigte den Angriff und bot eine Entschädigung der Opfer an. Die eigene Untersuchung gab dabei aber einer jemenitischen Quelle und deren falschen Informationen die Schuld.
Saudi-Arabien und die aus zehn Staaten bestehende Koalition begann mit ihrer Militäroperation im späten März 2015 und versucht seitdem die Houthi-Rebellen aus ihrer Machtposition zu vertreiben. Seitdem haben die Vereinten Nationen mehr als 4.100 tote Zivilisten gezählt. Die Mehrheit kam bei saudi-arabischen Luftangriffen ums Leben. Trotzdem besteht das Land darauf, wirksamen Zielauswahlkriterien zu folgen und untersucht Vorwürfe von Fehlern. Anfragen von IRIN nach einem Kommentar blieben bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung erfolglos.
In einer Verlautbarung vom 15. Oktober gab das "Joint Incidents Assessments Team (JIAT)", das durch die von Saudi-Arabien geführten Koalition eingerichtet wurde, die Schuld einem Partner von Präsident Abd Rabbu Mansour Hadi’s Exilregierung, der falsche Informationen geliefert habe. Dort sei die Rede von einem Treffen bewaffneter Houthi-Führer gewesen und er habe "darauf bestanden, dass der Ort unverzüglich angegriffen und als legitimes militärisches Ziel" behandelt werden müsse.
Die Untersuchung der Expertenkommission bietet einen sehr viel detaillierten Einblick in den Vorfall als die Ermittlungen des JIAT.
Die VIP-Gäste seien für den weiteren Verlauf des Konflikts von entscheidender Bedeutung gewesen, heißt es im Bericht: "Hätte der Angriff mehr von den hier aufgeführten Personen getötet, [...] dann hätte die Houti-Saleh-Allianz einen vernichtenden politischen und militärischen Schlag zu verkraften gehabt."
Versehen mit der Unterschrift des federführenden Kommissionsvertreters, Ahmed Himmiche und am 17. Oktober dem Vorsitzenden des Sanktionsausschusses des Sicherheitsrates für den Jemen zugegangen, enthält das Schreiben eine Liste von 25 hochrangigen Offiziellen, die bei der Beerdigung des Vaters von Saleh´s Innenminister Jalal Al-Ruwaysahn zu Gast waren. Ganz oben auf der Liste: Saleh persönlich, der nach seiner Absetzung im Zuge von Protesten der Bevölkerung sein Heil bei den Houti-Rebellen suchte.
Laut des Berichts der Kommission, verließen Saleh und sein Sohn vor dem Angriff den Ort des Geschehens.
Die zwei Luftschläge, ungefähr um 15:20 Uhr und 15:30 Uhr lokaler Zeit [GMT+3], "fielen mit dem Zeitpunkt zusammen, an dem die höchste Zahl an Trauerndenen erwartet wurde", schreibt die Kommission. Videomaterial des Angriffs erschienen kurz nach der Attacke in Sozialen Medien und zeigen deutlich Rauchschwaden, bevor weitere Bomben [ordinance = Kampfmittel] fallen. Außerdem ist das Geräusch von Kampfflugzeugen zu hören.
Das Schreiben der Expertenkommission nimmt auch Bezug auf lokale Bräuche, nach denen "politische und militärische Führer und Zivilisten, eine Teilnahme nicht vermeiden konnten."
Die Versammlungshalle, wo die Menschen zusammenkamen, bietet Platz für 1.000 bis 2.000 Personen. Hunderte Zivilisten, darunter Kinder, waren während des Angriffs anwesend.
Angesichts der Bedeutung der Familie, welche die Feier ausrichtete, der Größe des Saals und die übliche hohe Zahl von Teilnehmerinnen und Teilnehmern bei solchen Anlässen, kommt die Kommission zu dem Schluss, dass die von Saudi-Arabien angeführte Koalition "vernünftigerweise zu dem Schluss kommen musste", dass "sich eine überaus hohe Zahl an Zivilisten, darunter auch Kinder auf dem Anwesen aufhalten und aus diesem Grund [...] jeder Luftangriff eine hohe Anzahl an zivilen Opfern nach sich ziehen würde".
Der zweite Schlag im Mittelpunkt
Die Kommission nimmt Bezug zu relevanten Abschnitten des Internationalen Humanitären Völkerrechts (International Humanitarian Law - IHL), insbesondere was den zweiten Schlag angeht: "Das IHL verbietet Angriffe gegen hors de combat, Verwundete und medizinisches Personal und Einheiten."
"Der zweite Luftangriff, der sich drei bis acht Minuten nach dem ersten Luftangriff ereignete, führte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu noch mehr Opfern unter den bereits Verwundeten und den Ersthelfern" heißt es weiter. "Das Timing zwischen den Explosionen legt den Schuss nahe, dass es sich um den bewussten Einsatz der ‘double tap’-Taktik handelte, in deren Folge Individuen, die auf die erste Explosion reagieren, von der Zweiten getroffen werden."
"Die Kommission stellt hinsichtlich des zweiten Luftschlags weiter fest, dass die von Saudi-Arabien geführte Koalition ihre Verpflichtungen, was den Schutz von hors de combat-Personen und Verwundeten angeht, bei diesem ‘double tap'-Angriff verletzt und bei diesem zweiten Angriff keine wirksamen vorbeugenden Maßnahmen zur Minimierung ziviler Opfer, inklusive von Ersthelfern getroffen hat", so das Schreiben.
Die Kommission bezieht sich bei ihren Schlussfolgerungen auch auf zwei vergangene 'double tap'-Angriffe der saudischen Koalition, darunter die Bombardierung eines Marktes im März, bei dem 97 Zivilisten getötet wurden, und bezeichnet sie als Verletzungen des ILH.
Die Kommission wurde 2014 eingerichtet und berät den Sicherheitsrat bei möglichen Sanktionensmaßnahmen gegenüber dem Jemen. Zwei Jahresberichte wurden bisher veröffentlicht.
Das Mandat der Kommission umfasst auch das Monitoring aller Akteure, die "im Jemen Handlungen, welche die internationalen Bestimmungen zum Menschenrecht [international human rights law] oder das Internationale Humanitäre Völkerrecht verletzen, planen, anordnen oder verüben", "sowie Handlungen, die zu Menschenrechtsverletzungen führen"
Nach dem Luftangriff auf die Beerdigung führten diplomatische Bemühungen zur Vereinbarung über eine 72-stündige Feuerpause. Sie begann am Mittwoch danach kurz vor Mitternacht und hielt bis Donnerstagmorgen.
Im Original von Samuel Oakford. Der Beitrag ist zuerst auf dem Internetportal www.irinnews.org erschienen. Die Verantwortung für die Übersetzung liegt bei www.vergessene-kriege.blogspot.com
Bild des Schreibens des "Panel of Experts to UN Security Council Sanctions Committee on Yemen" - Quelle: IRIN |
[Anmerkung: Mit "double-tap" ist gemeint, dass einige Minuten nach einem erstem Angriff ein weiterer folgt. Damit sollen dann die "first responders" getroffen werden. Im militärischen Kontext können dies weitere Kämpfer sein, im Normalfall werden aber Ersthelfer, Ambulanzen, Ärzte und Zivilisten getroffen. Bei Drohnenschlägen ist dieses Vorgehen verbreitet, aber auch Terroristen nutzen die Tatsache, dass nach einer Explosion meist eine weitere hohe Zahl von Opfern getroffen werden kann.]
Der Angriff in der Hauptstadt Sana’a tötete mehr als 100 Menschen [Der Angriff wurde Anfang Oktober ausgeführt und kostete vermutlich sogar mehr als 150 Menschen das Leben], darunter auch den Bürgermeister der jemenitischen Hauptstadt, mehrere hochrangige Offizielle, die Verbindungen zu den Houthi-Rebellen und ihrem Verbündeten, dem ehemaligen Präsidenten Ali Abdullah Saleh, haben, und viele Zivilisten.
Hunderte wurden verwundet und es folgte ein internationaler Aufruhr. Innerhalb von Stunden kündigte das Weiße Haus eine "sofortige Überprüfung" ihrer Unterstützung der Koalition an. Saudi-Arabien bestätigte den Angriff und bot eine Entschädigung der Opfer an. Die eigene Untersuchung gab dabei aber einer jemenitischen Quelle und deren falschen Informationen die Schuld.
Saudi-Arabien und die aus zehn Staaten bestehende Koalition begann mit ihrer Militäroperation im späten März 2015 und versucht seitdem die Houthi-Rebellen aus ihrer Machtposition zu vertreiben. Seitdem haben die Vereinten Nationen mehr als 4.100 tote Zivilisten gezählt. Die Mehrheit kam bei saudi-arabischen Luftangriffen ums Leben. Trotzdem besteht das Land darauf, wirksamen Zielauswahlkriterien zu folgen und untersucht Vorwürfe von Fehlern. Anfragen von IRIN nach einem Kommentar blieben bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung erfolglos.
In einer Verlautbarung vom 15. Oktober gab das "Joint Incidents Assessments Team (JIAT)", das durch die von Saudi-Arabien geführten Koalition eingerichtet wurde, die Schuld einem Partner von Präsident Abd Rabbu Mansour Hadi’s Exilregierung, der falsche Informationen geliefert habe. Dort sei die Rede von einem Treffen bewaffneter Houthi-Führer gewesen und er habe "darauf bestanden, dass der Ort unverzüglich angegriffen und als legitimes militärisches Ziel" behandelt werden müsse.
Die Untersuchung der Expertenkommission bietet einen sehr viel detaillierten Einblick in den Vorfall als die Ermittlungen des JIAT.
Die VIP-Gäste seien für den weiteren Verlauf des Konflikts von entscheidender Bedeutung gewesen, heißt es im Bericht: "Hätte der Angriff mehr von den hier aufgeführten Personen getötet, [...] dann hätte die Houti-Saleh-Allianz einen vernichtenden politischen und militärischen Schlag zu verkraften gehabt."
Versehen mit der Unterschrift des federführenden Kommissionsvertreters, Ahmed Himmiche und am 17. Oktober dem Vorsitzenden des Sanktionsausschusses des Sicherheitsrates für den Jemen zugegangen, enthält das Schreiben eine Liste von 25 hochrangigen Offiziellen, die bei der Beerdigung des Vaters von Saleh´s Innenminister Jalal Al-Ruwaysahn zu Gast waren. Ganz oben auf der Liste: Saleh persönlich, der nach seiner Absetzung im Zuge von Protesten der Bevölkerung sein Heil bei den Houti-Rebellen suchte.
Laut des Berichts der Kommission, verließen Saleh und sein Sohn vor dem Angriff den Ort des Geschehens.
Die zwei Luftschläge, ungefähr um 15:20 Uhr und 15:30 Uhr lokaler Zeit [GMT+3], "fielen mit dem Zeitpunkt zusammen, an dem die höchste Zahl an Trauerndenen erwartet wurde", schreibt die Kommission. Videomaterial des Angriffs erschienen kurz nach der Attacke in Sozialen Medien und zeigen deutlich Rauchschwaden, bevor weitere Bomben [ordinance = Kampfmittel] fallen. Außerdem ist das Geräusch von Kampfflugzeugen zu hören.
Das Schreiben der Expertenkommission nimmt auch Bezug auf lokale Bräuche, nach denen "politische und militärische Führer und Zivilisten, eine Teilnahme nicht vermeiden konnten."
Die Versammlungshalle, wo die Menschen zusammenkamen, bietet Platz für 1.000 bis 2.000 Personen. Hunderte Zivilisten, darunter Kinder, waren während des Angriffs anwesend.
Angesichts der Bedeutung der Familie, welche die Feier ausrichtete, der Größe des Saals und die übliche hohe Zahl von Teilnehmerinnen und Teilnehmern bei solchen Anlässen, kommt die Kommission zu dem Schluss, dass die von Saudi-Arabien angeführte Koalition "vernünftigerweise zu dem Schluss kommen musste", dass "sich eine überaus hohe Zahl an Zivilisten, darunter auch Kinder auf dem Anwesen aufhalten und aus diesem Grund [...] jeder Luftangriff eine hohe Anzahl an zivilen Opfern nach sich ziehen würde".
Der zweite Schlag im Mittelpunkt
Die Kommission nimmt Bezug zu relevanten Abschnitten des Internationalen Humanitären Völkerrechts (International Humanitarian Law - IHL), insbesondere was den zweiten Schlag angeht: "Das IHL verbietet Angriffe gegen hors de combat, Verwundete und medizinisches Personal und Einheiten."
"Der zweite Luftangriff, der sich drei bis acht Minuten nach dem ersten Luftangriff ereignete, führte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu noch mehr Opfern unter den bereits Verwundeten und den Ersthelfern" heißt es weiter. "Das Timing zwischen den Explosionen legt den Schuss nahe, dass es sich um den bewussten Einsatz der ‘double tap’-Taktik handelte, in deren Folge Individuen, die auf die erste Explosion reagieren, von der Zweiten getroffen werden."
"Die Kommission stellt hinsichtlich des zweiten Luftschlags weiter fest, dass die von Saudi-Arabien geführte Koalition ihre Verpflichtungen, was den Schutz von hors de combat-Personen und Verwundeten angeht, bei diesem ‘double tap'-Angriff verletzt und bei diesem zweiten Angriff keine wirksamen vorbeugenden Maßnahmen zur Minimierung ziviler Opfer, inklusive von Ersthelfern getroffen hat", so das Schreiben.
Die Kommission bezieht sich bei ihren Schlussfolgerungen auch auf zwei vergangene 'double tap'-Angriffe der saudischen Koalition, darunter die Bombardierung eines Marktes im März, bei dem 97 Zivilisten getötet wurden, und bezeichnet sie als Verletzungen des ILH.
Die Kommission wurde 2014 eingerichtet und berät den Sicherheitsrat bei möglichen Sanktionensmaßnahmen gegenüber dem Jemen. Zwei Jahresberichte wurden bisher veröffentlicht.
Das Mandat der Kommission umfasst auch das Monitoring aller Akteure, die "im Jemen Handlungen, welche die internationalen Bestimmungen zum Menschenrecht [international human rights law] oder das Internationale Humanitäre Völkerrecht verletzen, planen, anordnen oder verüben", "sowie Handlungen, die zu Menschenrechtsverletzungen führen"
Nach dem Luftangriff auf die Beerdigung führten diplomatische Bemühungen zur Vereinbarung über eine 72-stündige Feuerpause. Sie begann am Mittwoch danach kurz vor Mitternacht und hielt bis Donnerstagmorgen.
Im Original von Samuel Oakford. Der Beitrag ist zuerst auf dem Internetportal www.irinnews.org erschienen. Die Verantwortung für die Übersetzung liegt bei www.vergessene-kriege.blogspot.com
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