Samstag, 16. Juli 2016

Was wir über den Putschversuch in der Türkei nicht wissen wollen

Der Putschversuch in der Türkei ist noch im Gange, aber es steht wohl schon seit Stunden fest, dass er scheitern würde. Für Twitterliebhaber war es eine schlaflose Nacht, in den Online-Redaktionen wurden die Überschriften der Live-Blogs (die mittlerweile ja auch die Entwicklungen nach einem Ereignis abbilden) hektisch geändert und mit Content befüllt. Der #Brexit-Blog wurde abgelöst von der #NizzaAttack, doch dessen Haltbarkeit beschränkte sich auf einen Tag, nun also die Berichterstattung für den #TurkeyCoup.


Screenshot: zeit.de

Auffällig ist, wie sich mittlerweile bei politischen Ereignissen dasselbe Muster wiederholt, welches auch beim Tod von Prominenten zu beobachten ist. "Was ist denn nur los dieses Jahr? Schon wieder einer der Besten, der gehen muss." So oder so ähnlich bildet sich der Eindruck ab, dass es absolut ungewöhnlich und tragisch sei, wie innerhalb einer bestimmten Zeitspanne Bud Spencer, Götz George, Muhammad Ali, Prince, Roger Cicero, Frank Sinatra und Peter Lustig diese Welt verlassen haben. Wenn man die Aufzählung liest, dann will man dem intuitiv zustimmen. Aber es ist natürlich so, dass auch 2015, 2000 oder 1985 zahlreiche Personen der Zeitgeschichte eben dieses Zeitliche segneten. 

Menschen suchen nach Mustern - und finden sie meistens. Wie eben in der Weltlage. Das lässt sich dann auf einen Tweet von, sagen wir Prinz Pi, herunterbrechen:





Diese Suche trägt zu einer Überforderung bei, die sich schon seit Jahren beobachten lässt, aber immer schärfer zeigt. Es mag an der Geschwindigkeit und der Unmittelbarkeit neuer Medien und Formen der Berichterstattung liegen. Oder daran, dass z.B. geflüchtete Menschen uns ganz real und physisch daran erinnern, wie es um die Welt bestellt ist. Oder gar an einem gestiegenen Bewusstsein der Menschen, dass ihr Land eben keine Insel ist. Egal was es ist, es verstärkt weiter den Wunsch nach Einfachheit und Abgrenzung.

Die Witze zum Jahresrückblick sind mittlerweile erwartbar geworden. Jedes Ereignis wird aufsummiert und stützt die Wahrnehmung der Welt, die aus den Fugen gerät. Screenshot: twitter.com

Es ist normal geworden Livefeeds und Blogs zu konsumieren, sich in Artikeln in der Form "Was ist passiert?", "Was wir wissen", "Die zehn wichtigsten Fragen und Antworten zum Putsch in der Türkei" auf dem Laufenden zu halten. Reicht das aus, unsere Überforderung zu erklären? Ist es die schiere Masse, die krassen Bilder, die teilweise zu sehen sind? 

Dabei sind sie doch nur ein kleiner Ausschnitt aus der Welt. Syrien, Jemen, Südsudan (dessen Konflikt mal wieder "Pech" hat, was die Aufmerksamkeit angeht) machen ja keine Pause.

Vielleicht ist es nicht die Quantität, die zu solchen Reaktionen führt, sondern die Qualität. Die entscheidenden Fragen bleiben offen, bzw. gehen in der Masse unter. Egal, ob es um die Ursachen von Terrorismus geht, oder die komplexen Verhältnisse in der Türkei - am Schluss ist alles Live-Ereignis, bis die Netzgemeinde weiter zieht. Zurück bleiben die Menschen, die nicht nur virtuell, sondern real betroffen sind und die vielen offenen Fragen, zu deren Beantwortung keine Zeit mehr bleibt.

Es ist also auch eine Art hausgemachte Überforderung, wenn der Eindruck erweckt wird, zwei Tage alte Ereignisse besäßen keine Relevanz mehr. Sie setzen sich als dumpfes Gefühl in einem fest. Im Bauch oder einer der hinteren Ecken unseres Hirns. Und kommen verwandelt und in anderer Gestalt an anderer Stelle wieder zum Vorschein, zum Beispiel in Form von Terrorakten.

So bleibt man ratlos zurück, was dann eigentlich zu tun bleibt. Vertiefte Beschäftigung bei stärkerer Selektion? Weniger Smartphone-Videos und mehr Analyse? Kaum.

Die Menschen wenden sich ab, nachdem sie das bisschen, was noch verdaut werden kann, aufgenommen haben. Sie wollen eben nicht alles über den Putschversuch in der Türkei wissen. Weil sie spüren, dass hinter all den Konflikten und Schreckensmeldungen sich der Zustand der Welt offenbart. Ungerechtigkeit und Ausbeutung, eine Welt, in der nicht jeder Mensch gleich viel wert ist. Eine Welt, in der Konflikt normal ist, weil er in Kauf genommen wird. In der manche Menschen Opfer werden und andere Glück haben (Terrorismus weicht die Grenze ein wenig auf, aber diese Form der Gewalt bleibt rein von ihrer Definition her asymmetrisch). Gegen diese Wahrheit wehrt sich alles in uns.

Wo wir wieder bei den Prominenten wären. Lieber sagt man: "Was ist denn nur los dieses Jahr, schon wieder Eine*r?!", anstatt der simplen, wenn auch unangenehmen Tatsache ins Auge zu sehen: Der Tod ist unausweichlich, auch der Eigene.

1 Kommentar:

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