Mittwoch, 11. Mai 2016

Postwachstum und Fortschritt: "Wer innehält, sabotiert unsere Sache"

Da sitzt man in der warmen Mai-Sonne am Bahnsteig und denkt sich sich nichts Böses und zack - schleichen sich komische Gedanken ins erwärmte Gemüt. Etwas entfernt bröckelt ein Bahnhäuschen aus verwitterten Ziegeln vor sich hin, ein leichter Wind weht über den menschenleeren Gleis und schon ertappt man sich dabei, wie man über die Schönheit des Verfalls und den Wunsch nach Stille, nach Ruhe, die sich offenbar nur noch im Niedergang finden lässt, sinniert.

Langsam füllt sich der Bahnsteig mit Menschen, Geflüchtete mit hektischem Blick und Plastiktüte laufen vorbei. Was werden sich Menschen aus Syrien, aus Afghanistan (oder irgendeinem Land das nicht Deutschland ist) nur denken, ob der neuen Anzeigetafeln, der minutengenauen Abfahrt, der neuen Sitze und der unhörbaren Klimaanlage? Vermutlich am Anfang staunen und es dann als genauso selbstverständlich nehmen wie wir alle.

Aber - und hier schimmert das große "Aber" durch - auch wenn es niemandem mehr bemerkenswert erscheint, so ist es doch eine Umgebung, die uns unterschwellig ständig unter Druck setzt. Die in ihrer Reibungslosigkeit und glitzernden Perfektion uns zuflüstert: "Mich gibt es nicht umsonst." Es ist eine Infrastruktur der Erwartungen, eine Infrastruktur, die einem Dankbarkeit nahe legt: "Schau, wie gut hier alles funktioniert, wie neu, wie modern, wie störungsfrei die Dinge ablaufen." Auch wenn wir uns beklagen, müssen wir das im Großen und Ganzen anerkennen. Nein, gerade, weil wir uns beklagen. Um uns herum funktioniert alles und doch dürfen wir uns beklagen. Es ist der ultimative Luxus. Luxus um sich herum und dennoch unzufrieden, welch größere Dekadenz kann es geben.

Eine solche Umgebung, ist so aber auch ein Werkzeug der Macht. Der Wunsch nach Einfachheit, nach Stillstand, nach Postwachstum wird dort zur Utopie, ja zur Dystopie, wo Zweifel nicht mehr möglich sind.

Bleiben wir am Bahnhof. Die Sonne scheint und man denkt sich: "Soll das Häuschen doch bröckeln. Was wäre schlimm daran, wenn das Gras durch die Betonritzen dem Licht entgegen strebt. Ein Zug ohne Klimaanlage fährt auch, ein verschlissener Sitz trägt einen und auch wenn es angenehmer sein kann, so sind doch das Entscheidende die Sonnenstrahlen, die einem das Gesicht erwärmen, der kleine Augenblick des erfüllten Wartens in der Stille."

Doch die Gegenargumente sind mächtig. Denn sie sind gut, sind legitim. "Was ist mit der Barrierefreiheit, wenn alles bröckelt? Malst Du auch alles in bunten Farben bei zweistündigem Halt auf freier Strecke ohne Klimaanlage? Wie steht es um Dein Bedürfnis nach Mobilität, was ist mit Abgaswerten von dreckigen alten Fahrzeugen, die die Leute krank machen?"

Die Moderne hat viele starke Argumente gegen den naiven Wunsch nach Entschleunigung. Man fühlt sich ihr gegenüber, als würde man Vergangenes herbei wünschen, nicht etwas Künftiges schaffen wollen.

Auch wenn die Rechnung der Technologiegläubigen vielleicht nicht aufgeht - sind die verringerten Emissionen bei der Produktion teuer erkauft worden? Verringern wir mit gesteigerter Mobilität wirklich unseren ökologischen Fußabdruck? Beruhen unsere Errungenschaften auf inklusive Strategien, die globale Gerechtigkeitsfragen wie selbstverständlich mitdenken? - die Gegenbeweisführung ist nicht einfach.

Genügt es an dieser Stelle bloß ein Unbehagen zu formulieren?

Wollen wir die Errungenschaften der Moderne, die Ergebnisse des technischen Fortschritts?
Ja, natürlich, wie sollte man da grundsätzlich ablehnen in einem Moment, in dem ich auf dem Laptop tippe und mit einem Klick diese Zeilen theoretisch* aller Welt zugänglich machen kann.

Doch da regt es sich erneut. Muss es denn umhinterfragt, unbesehen und ungesteuert sein? Es mag nicht mehr möglich sein technologischen Fortschritt tatsächlich zu regulieren. Ein Werterahmen muss sich aber doch noch festlegen, ein Anforderungskatalog, was Fortschritt überhaupt bedeutet. Ein Rahmen, der Fortschritt als zivilisatorischen Fortschritt begreift und damit umfassender definiert als wir es offenbar zur Zeit tun. Ein Fortschritt, der Unbehagen, Kritik und Gegenentwürfe begrüßt und nicht als feindlich ablehnt. Der zulässt, dass wir trotz aller guten Argumente, des Komforts und der Heilsversprechen fragen: "Wozu?". Der sich über die Sehnsucht nach Entschleunigung und dem Gefühl des Innehaltens und Besinnens nicht lustig macht.

Das Spannungsverhältnis ist nicht einfach zu greifen. Neben dem durchschimmernden "Früher war alles Besser"-Lamento, klingt die Formulierung auch arrogant. Arrogant in den Ohren derer, die froh wären, wenn es bei ihnen einen Zug gäbe. Die sich nach dem Luxus sehnen, von dem wir uns erdrückt fühlen. Weil für sie die Realität die Abwesenheit von Luxus ist. Zwei Drittel der Menschheit können diesen Gedankengang gar nicht nachvollziehen, weil er ihnen abstrus erscheint. Genau hier liegt vielleicht die tiefere Wahrheit solcher Bahnsteiggedanken.

Wir sehen uns einer Gesellschaft gegenüber, die sich von wirtschaftlicher Logik dominieren lässt, sich dieser unterordnet und jeden Tag mit der Drohung lebt: "Wer nicht mitmacht, der setzt alles aufs Spiel. Wer nicht zu schätzen weiß, was wir hier erschaffen, der bedroht unsere Zukunft. Wer innehält, sabotiert unsere Sache." Denn es droht in jedem Moment ein Zurückfallen. Der Verlust der sauberen, leisen, klimatisierten Züge, der neuen Bahnhöfe und des 30-Minuten-Taktes, die wir "erwirtschaften".

Es bleibt kein Raum nach Prioritäten zu fragen, nach dem, was sich eigentlich jede und jeder Einzelne von uns wünscht, wenn der Wettbewerb in Echtzeit geführt wird.

Mit dem Gefühl in dieser verwirrenden und sich immer stärker beschleunigenden Welt arrangiert man sich, und spürt nur unbewusst, dass dieses Arrangieren Selbstaufgabe bedeutet.

Ein paar nette Worte mit einer netten Person, ein paar Sonnenstrahlen, die einem ins Gesicht scheinen, die Stille an einem kleinen See im Wald, ein Kuss,... - wir ähneln uns so sehr, wenn wir nach dem Glück gefragt werden.

Realer als diese Wünsche, die wir als Bilder vor allem in der Werbung von Reisevergleichsportalen finden, sind Bluetooth-Kopfhörer, Bestellungen, die am selben Tag geliefert werden und Netflix.

Wir lassen zu, dass für das Eigentliche immer weniger Zeit, immer weniger Raum bleibt, während die kleinen Gadgets und Annehmlichkeiten, der technologische Fortschritt unsere Gedanken und unser Handeln dominieren. Wir lassen zu, dass die Moderne sich nicht nach unserem Rhythmus, nach der menschlichen Harmonie richtet.

Sei es der neue Zug, das reibungslose Funktionieren der Kommunikationsströme oder die damit einhergehende Überwindung von physischen Grenzen, sie alle geben den Takt vor und formulieren ihre versteckte Erwartungshaltung der Dankbarkeit. "Wenn Du das gut findest", ist die Botschaft, "dann sei gefälligst auch ein produktiver Teil des Ganzen, was diese revolutionäre Technik hervorbringt." Jede Abweichung soll gleich ein ein Ausstieg sein, jeder Zweifel ein Menetekel. Wem ein paar Sonnenstrahlen genügen, wer glücklich ist der Stille am leeren Bahnsteig zu lauschen, der macht sich überflüssig.

Es scheint unmöglich in diesem Kontext auf Ausgleich bedacht zu sein. Zuzugeben, dass man technologischen Fortschritt selbst nutzt und nützlich findet. Dass man nicht zurück will in die Steinzeit. Jedoch die Sehnsucht hat, die irgendwo gemeinschaftlich formulierten und angeblich alles überstrahlenden Werte wie Gerechtigkeit, Toleranz, Solidarität und Nachhaltigkeit in Einklang mit unserer Welt zu bringen. Den Wunsch hat der Frage nachzugehen, ob der von uns (unbewusst) definierte Fortschrittsbegriff mehr zu bieten hat, als wirtschaftliches Wachstum und technologische Verbesserungen.

Bei einer Annäherung an diese Fragen könnte es nützlich sein, sich auf die eigenen tatsächlichen Bedürfnisse zu besinnen. Zeit zu haben, Nähe zu spüren, Ruhe zu finden. Diese Besinnung hat das Potential, Raum zu schaffen und Ressourcen freizumachen, um diese Dinge, die Ausdruck eines Lebens und nicht eines bloßen Überlebens sind, am Schluss allen Menschen zu ermöglichen.

Die Minuten bis zur Abfahrt sind verstrichen und nach einiger Zeit knallt die Sonne einem ganz schön auf den Kopf. Schnell ins klimatisierte Abteil, die wirren Gedanken, die einen Sonnenstich nahelegen, verschwimmen und so suche ich mir erfüllt von unterwürfiger Dankbarkeit einen schönen gemütlichen Platz am Fenster, von dort aus kann ich das verwitterte Bahnhäuschen keine 50 Meter entfernt sehen. Ich schalte das Smartphone ein und schüttle den Kopf, jemand sollte das Ding mal instandsetzen, sonst geht hier ja alles den Bach runter.



* Theoretisch, weil nur 41 Prozent der Weltbevölkerung Zugriff auf das World Wide Web haben.


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