Sonntag, 17. Januar 2016

Dokumentarfilm Iraqi Odyssey: Berührende Familiensaga und Schlüssel zum Verständnis einer ganzen Region

Es ist nicht einfach zum Kern des Films Iraqi Odyssey vorzudringen. Ganz außen, da ist er einfach eine Familiensaga über einen Zeitraum von fast 100 Jahren und erzählt die Geschichte einer irakischen Familie der oberen Mittelklasse, die sich über die Zeit in alle Ecken der Welt verstreute.

Schält man diese erste Schicht ab, dann verbirgt sich darunter eine Geschichtsstunde, die von den Umwälzungen und Wendungen der irakischen Vergangenheit erzählt und zum Verständnis des Iraks in der Gegenwart beiträgt. 


Wenn man diesen Überzug aus Zahlen und Daten abkratzt, dann sieht man, dass der Film zudem eine vollkommen neue Perspektive dieser Geschichte offeriert. Mit seiner Erzählweise schafft er es, die bekannten und als gültig hingenommenen Narrative unserer europazentrierten (oder "westlichen") Analyse des Weltgeschehens aufzubrechen. 

Noch weiter im Inneren, da ist die Dokumentation von Regisseur Samir eine berührende Erzählung miteinander verwobener Schicksale von beschädigten Menschen, die ihr ganzes Leben mit den erlittenen Verletzungen hervorgerufen durch Flucht und Vertreibung, zerrissene Familien und enttäuschte Hoffnungen kämpfen.  

Im Kern ist der Film aber ein Plädoyer für Menschlichkeit und Toleranz. Die Geschichte der Familie des Regisseurs lässt einen mit einem ganzen Wust aus Gedanken zurück. Die Zufälligkeit der Ereignisse, welche die Familie über die ganze Welt verstreute, zeigt die riesige Zahl an Gründen, die Menschen zur Flucht zwingen. Sie zeigt, dass jeder zum Flüchtling werden kann und führt die mantrahaft wiederholten Sätze "besorgter" Menschen über angebliche Wirtschaftsflüchtlinge ad absurdum, weil es dieser Argumentation einzelne Geschichten entgegensetzt. 

Den einen Grund zur Flucht gibt es oft gar nicht. Das Beispiel des Irak zeigt, dass es eine Mischung aus repressiver Politik, Armut und Krieg sein kann. Eine Atmosphäre der Angst und Perspektivlosigkeit, die einen zermürbt und die niemand auf Dauer aushalten kann. Es zeigt, dass die Annahmen, wer denn hier zu uns kommt, in der zur Zeit debattierten Form kaum der Realität entsprechen. 

Vor etwas mehr als 50 Jahren schien der Irak auf der Schwelle zu einer modernen und säkularen Gesellschaft zu stehen, auch wenn viele Konflikte bereits damals brodelten. Die ganze Region war dennoch auf dem Sprung in die Moderne, doch unter anderem der Einfluss geopolitischer Interessen machte dem ein Ende. Über vier Millionen Iraker kehrten in dieser Zeit ihrer Heimat den Rücken, lebten ihr neues Leben im Ausland und blickten doch immer mit Wehmut zurück. Diese Wehmut durchzieht den gesamten Film.

Interessant war bei der Berlin-Premiere, wie die schweizerische Vertreterin der Produktionsfirma auch nicht umhin konnte, den Film in die aktuelle Debatte einzubetten. Ihrer Meinung nach illustriere der Film, wie offen und tolerant die Schweiz (stellvertretend für andere Länder Europas) mit geflüchteten Menschen umgehe und warb dafür, dass sie sich diese Haltung bewahren sollten. Es war gut zu sehen, dass der Regisseur zumindest am Rande den latenten Rassismus der Aufnahmegesellschaften und die schwierige "Assimilation" in diesen thematisierte und so die sicherlich gut gemeinten, aber nur zum Teil der Realität entsprechenden Worte relativierte. 

Iraqi Odyssey lebt von den Interviews seiner Protagonisten, deren Lebenswege den Film über die gesamten 163 Minuten tragen (die normale Kinoversion wird mit 96 Minuten deutlich kürzer sein).   



Kombiniert mit vielen zeitgenössischen Archivaufnahmen entsteht so ein plastisches Bildes des Irak, das weit über Kriege und Krisen hinausreicht (auch wenn diese sicherlich das Tempo und den Rahmen für die Entwicklung des Landes vorgegeben haben) und zeigt, dass die Welt facettenreicher ist als wir sie normalerweise wahrnehmen. 

Einer der Onkel des Regisseurs, Jamal, der bis heute an die Ideale der kommunistischen Revolution glaubt und mit bewundernswerter und dennoch tragischer Gleichmut diese Werte verteidigt, erzählt von seiner Flucht nach Moskau, von seiner großen Liebe, die ihn später bei seiner Rückkehr begleitete und mit der heute wieder in der russischen Hauptstadt lebt. Er musste mit ansehen, wie die Führung der Sowjetunion die verbündeten Kräfte der Revolution von 1958 verriet und den Boden für die folgenden Diktaturen bereitete. 

Da ist Onkel Sabah, der Augenarzt, der gerne Geschichten erzählt und dessen ausgeschmückte Erzählungen ein ums andere Mal von seinen Verwandten ins rechte Licht gerückt werden müssen. Und der dennoch ebenfalls auf ein bemerkenswertes Leben zurückblicken kann, der in Kuweit verhaftet wurde, in Westdeutschland arbeitete und nun in London lebt.

Auch die Geschichte des Vaters von Samir, der in der Schweiz nie richtig heimisch wurde und nach Jahren in den Irak zurückkehrte, endet tragisch. Der verheerende Krieg mit dem Nachbarn Iran, der eine Millionen Menschen das Leben kostete, holt den Rückkehrer ein und zerstört die in der Diaspora ersehnte Idylle. 

Die junge Halbschwester Souhair ist die jüngte Stimme der vorgestellten Familienmitglieder. Sie lebte bis vor wenigen Jahren in Bagdad und musste als Jugendliche mit ansehen, wie das Land nach 2003 in Chaos und Bürgerkrieg versank. Sie flüchtete in die USA und träumt dennoch täglich von einer Rückkehr. 

Es gibt nicht viele Filme, die es mit dieser Leichtigkeit schaffen einen Bogen aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu schlagen und Themen wie Krieg, Flucht und Vertreibung aufzuarbeiten, ohne ein reines Werk der Krise zu sein. 

Die Beschäftigung mit dieser sensibel erzählten Familiengeschichte erlaubt einen Blick über den eigenen Tellerrand hinaus und liefert einen sehenswerten Zugang zu einer Region, der in der aktuellen Betrachtung doch meist das Wort "Konflikt" vorangestellt wird.

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