Mittwoch, 9. Juli 2014

Die Geister des Ersten Weltkriegs

"Glaubst Du an Geister?" - "Nein." 

In dem dunklen Ausstellungsraum kommt das gar nicht so leicht über die Lippen. Zwischen Glaskästen mit halb geöffneten Türen dringen Stimmen aus Lautsprechern, flackern unscharfe Bilder an der Wand. Die Stimmen erzählen von Heimat und Familie, sie singen Lieder in einer fremden Sprache, im Hintergrund hört man oft ein leises Murmeln.


Das Tieranatomische Theater ist das älteste erhaltene akademische Lehrgebäude Berlins und wurde 1789/1790 erbaut. Seit Oktober 2012 wird es nach der Sanierung als Ausstellungs- und Veranstaltungsort genutzt. Photocredits: Alexander Kitterer

Die Ausstellung, besser die Installation - sie füllt nur einen Raum im Erdgeschoss des Tieranatomischen Theaters der Humboldt-Universität auf dem Campus Nord -  "The Making Of... Ghosts" basiert auf den Recherchen des Filmemachers Philip Scheffner zum Film „The Halfmoon Files“ und den Forschungen der Kulturwissenschaftlerin Britta Lange zu wissenschaftlichen Untersuchungen an Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg.

So trafen in einem Gefangenenlager nördlich von Berlin, genauer in Wünsdorf, während des Ersten Weltkriegs deutsche Forscher auf internierte Soldaten, die vor allem aus Indien und aus Nordafrika stammten. Darum wurde das Lager auch "Halbmondlager" genannt. 



Auch wenn die Ausstellung nur einen Raum füllt, in den atmosphärischen Mauern des Theaters entfalten sich die Geister der Vergangenheit auf besondere Art und Weise. Photocredits: Alexander Kitterer

Scheffner und Lange komponieren aus Tondokumenten, Bildern, Filmen und Texten, die sie in den Archiven fanden ein audiovisuelles Netz von Geschichten über die Verflechtungen von Kolonialismus, Krieg, Medien, Politik, Unterhaltungskultur und Wissenschaft. Die Aufnahmen stammen aus dem Lautarchiv der HU, dessen Grundstock aus 1.650 Grammophonaufnahmen aus dieser Zeit besteht.
 

Eigentlich sollten die gefangenen muslimischen Soldaten zum Aufstand gegen ihre Kolonialherren bewegt werden, die Erfolge dieser Versuche waren aber kaum der Rede wert. Doch die Wissenschaft beschäftigte sich eben intensiv mit diesen "exotischen" Kriegsgefangenen. So werden Sprach- und
Gesangsaufnahmen der Gefangenen von der "Königlich Preußische Phonographische Kommission" angefertigt. 1915 gegründet, vereint sie über 30 Wissenschaftler aus den Bereichen Anthropologie und Sprach-, sowie Musikwissenschaft. Ziel ist die systematische Aufnahme der verschiedenen Sprachen und der Musik von in deutschen Lagern befindlichen Kriegsgefangenen. 


Es war einmal ein Mann. Er geriet in den europäischen Krieg.
Deutschland nahm diesen Mann gefangen. Er möchte nach Indien zurückkehren. Wenn Gott gnädig ist, wird er bald Frieden machen. Dann wird dieser Mann von hier fortgehen.

 Mall Singh, aufgenommen am 11. Dezember 1916 in Wünsdorf


Restaurierter Vorlesungssaal des Tieranatomischen Theaters: Auch wenn die Installation sicher nicht stundenlang fesselt, so ist allein die Stimmung etwas Besonders. Auch auch das Gebäude an sich versetzt den oder die BetrachterIn zurück in die Zeit vor 100 Jahren, als der Erste Weltkrieg begann. Photocredits: Alexander Kitterer 

Die Frage vom Anfang wird in einem Filmausschnitt bei der Begehung des ehemaligen Lagers gestellt. Gespenstisch stehen die verfallenen Baracken jedenfalls da, auch wenn die Sonne scheint. Es gibt sicherlich fakten- und umfangreichere Ausstellungen zum Ersten Weltkrieg in diesem Jahr. Doch ein paar Punkte geben auf jeden Fall Stoff zum Nachdenken. Zum Beispiel die Tatsache, dass sicher in vielen Archiven noch wissenschaftliche Erzeugnisse aus Kriegszeiten liegen, mit denen der Umgang nicht leicht fällt. Oder die Dimension des Krieges, die daran deutlich wird, dass indische Männer in der brandenburgischen Provinz interniert wurden. 

Die Kulturwissenschaftlerin Nicole Wolf (Universität London) schreibt im Ausstellungsheft
Wenn also Archive ein Ort für Geister sind, könnte man ebenso annehmen, sie seien gefüllt mit einer Art Zeitlichkeit, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kollabieren lässt. [...] Lassen wir uns darauf ein, werden wir selbst zu Geistern, schweifen umher, lassen uns ein auch auf das was nicht in seiner Gesamtheit verstanden werden will, könnten die verschiedensten Relationen zum Archiv belebt werden.
Die alten Mauern des Theaters jedenfalls bieten den passenden Rahmen dafür. Die Ausstellung ist noch bis zum 9. August zu sehen.

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