Im Nahostkonflikt wird das Wort "Gewaltspirale" gerne verwendet, als sei dies ein besonderes Merkmal dieser Auseinandersetzung. Aufgrund der Struktur der gegenseitigen Vergeltungsschläge (mit stark asymmetrischen Mitteln) ist diese Betrachtung sicher nicht falsch. Doch nur aufgrund des medialen Grundrauschens wird der Öffentlichkeit dieser Mechanismus immer wieder vor Augen geführt. Bei anderen Konflikten tritt dies nicht so offen zutage, obwohl auch dort diese Struktur Auseinandersetzungen determiniert und zementiert.
Zum Beispiel im Jemen. Dort wurden am 5. August mindestens 45 Menschen getötet, als sich ein Attentäter auf einer Beerdigung in die Luft sprengte. Mutmaßlicher Drahtzieher war eine extremistische Gruppe, welche Al-Qaida nahe stehen soll. Der Verstorbene kommandierte eine lokale Miliz, welche die Regierung im Kampf gegen Extremisten und Militante unterstützt.
Der mutmaßliche Al-Qaida-Ableger Anshar ash-Shari´a (Partisanen der Scharia) hatte im vergangenen Jahr das Machtvakuum nach den Protesten gegen den damaligen Machthaber Ali Abdallah Saleh genutzt, um seine Macht im Süden und Osten auszubauen. Auch die Wahl im Februar dieses Jahres, als der langjährige jemenitische Vizepräsident Abed Rabbo Mansur Hadials als Übergangslösung die Macht erlangte, hat den politischen Stillstand nicht aufgelöst. Allein, das militärische Vorgehen mit Unterstützung des Partners USA
ist geblieben.
Am selben Tag wurden im Osten des Jemens fünf mutmaßliche
Al-Qaida-Mitglieder beim Beschuss ihres Fahrzeugs durch eine Drohne
getötet. Der Vorfall trug sich in der Umgebung von Al-Kotn in der Region
Hadramaut zu, zwei Raketen wurden auf das Auto gefeuert. Erst gestern wurden vier mutmaßliche Extremisten bei einem Schusswechsel mit regulären Militärkräften getötet. Grund für die Kämpfe war die Tötung eines weiteren Kommandeurs einer Stammesmiliz, so die Reuters-Meldung. Was bald folgen wird ist relativ einfach zu prophezeien. Treffen wird es vor allem Zivilisten, welche einem Anschlag oder einer abgefeuerten Rakete zum Opfer fallen.
Dass dies nicht bedeuten kann extremistischen Gruppen, wie Anshar ash-Shari´a oder dem Al-Qaida-Ableger auf der arabischen Halbinsel (AQAP) nicht entschieden entgegenzutreten, steht außer Frage. Doch der Kreislauf aus Anschlägen und sofortigen Gegenschlägen aus der Luft mit zahlreichen zivilen Opfern erleichtert die Rekrutierung für diese militanten Gruppen und erschwert in dieser hochvolatilen Region mit starken Stammesinteressen jedweden politischen Prozess.
Ob es ohne weiteres mit Versuchen in Form von Friedensgesprächen, der Entwicklung marginalisierter und bisher ignorierter Regionen oder der Stärkung der Zivilgesellschaft gelingen kann die Extremisten zurückzudrängen, ist fraglich. Doch zieht man an dieser Stelle wieder Parallelen zum Nahostkonflikt, so erscheint dies als der einzige Weg.
Die USA sind zwar mit Hilfe der Drohnen in der Lage ohne größeres Aufsehen Luftschläge auszuführen, die auf dem Papier die Handlungsfähigkeit der Militanten zerstören und deren Rückzugsmöglichkeiten einschränken sollen. Doch wie auch das Beispiel Pakistan zeigt, sind die Erfolge teilweise höchst bescheiden, abgesehen von den ethischen Fragen, welche sich mit diesen gezielten Tötungseinsätzen verbinden. Große Veränderungen sind kaum zu erwarten. Offizielle im US-Außenministerium verstehen den Konflikt im Jemen so:
U.S. State Department and intelligence officials have worried that AQAP will exploit the worsening security situation in Yemen, and American officials have closely tracked the fighting in Zinjibar as a possible early test of the group’s strength in the region. State Department spokesman Mark Toner said AQAP’s sizable presence puts the country on a different tier compared with other nations hit by political unrest.
“It’s the reason why we’ve had such an ongoing, robust counterterrorism cooperation,” Toner told reporters last week. “But as we’ve said many times, that cooperation isn’t hinged on one individual.” Regardless of who leads Yemen, he said, “we’re going to continue to work with the [current] government” to keep the terrorist group from gaining a foothold.
Im selben Artikel werden aber auch die Gefahren angesprochen, wobei nicht nur das Erstarken militanter Extremisten ein Problem für die politischen Institutionen des Landes darstellt, sondern vor allem auch deren Reaktion auf die Bedrohung:
The rise of the Islamist extremists also complicates a political landscape that is crowded with several groups seeking power, including youth activists, the traditional political opposition, Saleh’s loyalists, powerful tribal leaders and defected military generals.
Dabei vergessen die USA, dass sich schon vor einigen Jahren, als Präsident Saleh noch fest im Sattel saß, eine Fokussierung auf ein massiv militärisches Vorgehen als Irrweg erwiesen hat. Ein Zitat aus einem Post von 2009 ist in diesem Zusammenhang immer noch relevant. So zementieren sich die lokalen Konflikte durch mehrere Faktoren, wie der Wissenschaftler Hanspeter Mattes aufzeigte:
1. Innergesellschaftliche Faktoren: Hierzu zählen die in allen arabischen Staaten – wenngleich in unterschiedlicher Weise ausgeprägten – Faktoren Tribalismus (z. B. besonders im Jemen, in Jordanien, Libyen, weniger in Tunesien) und Klientelismus, die die Absicherung des Einzelnen garantieren; der Stamm oder die Großfamilie fungieren als soziale Sicherungseinrichtung und zum Staat besteht ein austariertes Wechselverhältnis zwischen staatlicher Fürsorge (in Form von Posten oder sonstigen Privilegien) und Loyalität.
2. Religiöse und kulturell-zivilisatorische Faktoren: Insbesondere Elhadj (2008) weist auf die „Gehorsamswelten“ hin, in denen der arabische Bürger sozialisiert wird und die religiös durch Scharia und Fatwas gestützt werden. So hat der Sohn/die Tochter dem Vater zu gehorchen, das Stammesmitglied dem Stammesführer, die Ehefrau dem Vormund/Ehemann, der Gläubige dem Imam, der Bürger der Regierung/dem Herrscher. Ergebnis ist die Unterordnung des Einzelnen unter Autorität, die Kultivierung gesellschaftlicher Anpassung und letztendlich die Angst vor Wandel, von dem man nicht weiß, was er bringt.
3. Sozioökonomische Faktoren: Diese Faktoren spielen in mehrfacher Weise eine Rolle, ohne dass diese hier alle ausführlich abgehandelt werden können. Zwei Beispiele seien genannt: Zum einen kann geringe Schulbildung die Akzeptanz der gesellschaftlich dominierenden Gehorsamswelten begünstigen, zum anderen vermögen jene Staaten, die durch Erdölexport, Phosphatabbau oder Kommerzialisierung ihrer geostrategischen Lage über hohe Renteneinnahmen verfügen, leichter Loyalität zu erkaufen, indem sie eine entsprechende staatliche Beschäftigungspolitik betreiben, die Sozialsysteme und Grundnahrungsmittel subventionieren oder durch eine lukrative Perspektiven eröffnende Privatisierungspolitik die Wirtschaftsschicht noch stärker an die politische Führung (und ihr politisches Überleben) binden.
4. Politische Ordnungsfaktoren: Der in allen Staaten vorherrschende Neopatrimonialismus oder die historisch nachgewiesenen patriarchalischen Entscheidungsstrukturen durchdringen nicht nur den Staatsapparat, also Regierung, Parlament und Administration, sondern auch die politischen Parteien und die – soweit vorhanden – zivilgesellschaftlichen Vereinigungen. Die durchgängig starke Personalisierung der Entscheidungsstrukturen hat zur Ausprägung des Begriffs Zaimismus geführt. Er beschreibt ein politisches System, in dessen Zentrum ein politischer Führer steht, der autokratisch agiert und selbst keinerlei politischen Kontrolle unterworfen ist, allerdings zum politischen Überleben das Prinzip der „sozialen Gerechtigkeit“ (al-adala alijtima’iya) nicht aus den Augen verlieren darf.
5. Internationale Umfeldfaktoren: Hierzu zählen mehrere Teilfaktoren, darunter an erster Stelle größere Konflikte (u. a. der israelisch-palästinensische Konflikt, Irakkonflikt, der Sommerkrieg im Libanon 2006), die, wie auch der anhaltende Krieg gegen den Terrorismus, das politische Umfeld belasten. Unter den arabischen Politikern herrscht die einer Ausrede gleichkommende Auffassung, dass interne Reformen ernsthaft erst dann in Angriff genommen werden können, wenn außenpolitisch die Bedrohung beseitigt und die Konflikte gelöst sind. Ein zweiter wichtiger Teilfaktor ist die Tatsache, dass sowohl die USA als auch die EU-Staaten prinzipiell an politischer Stabilität in den arabischen Staaten und an der Sicherung der Ölimporte interessiert sind und von daher eher bereit sind, mit den gegenwärtigen Staatsführungen zusammenzuarbeiten als darauf zu bestehen, dass Reformprozesse mit ungewissem Ausgang eingeleitet werden.
Dies mag teilweise plakativ sein und vernachlässigt auch die neuen Entwicklungen des arabischen Frühlings. Aber dass politische und sozio-ökonomische Ungleichgewichte, die große Kluft zwischen urbaner und peripherer Lebenswelt und der Tribalismus konfliktfördernd wirken, kann kaum bezweifelt werden. Zudem mögen Renteneinnahmen im Jemen eine untergeordnete Rolle spielen, die Abhängigkeit beim Umgang mit Extremisten von den USA schlägt sich aber auch finanziell nieder.
Insofern scheinen nur hier Ansatzpunkte zu sein, um die Gewaltspirale zu stoppen. Nicht in einem verstärkten militärischem Engagement, wie sich dies andeutet. Sichtbar werden diese Zusammenhänge kaum, dazu sind die Ereignisse des Arabischen Frühlings schon zu sehr verblasst und die abstrakten Ängste vor islamistischem Terror zu groß.
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