Mittwoch, 1. Dezember 2010

Nahostkonflikt: BMWs bringen keinen Frieden


Wirtschaftliche Projekte sollen nach Meinung vieler Politiker den Grundstein für einen eigenständigen palästinensischen Staat legen und so Frieden im Nahen Osten schaffen. Doch ohne politische Schritte und einer Veränderung der aktuellen Strategie droht ein Fiasko. Denn dann werden die Palästinensischen Gebiete dauerhaft von Israel und der internationalen Gebergemeinschaft abhängig bleiben.

Auch beim Besuch des deutschen Bundespräsidenten Christian Wulff in den Palästinensischen Gebieten wird deutlich, welche Strategie die internationale Gemeinschaft im Nahen Osten verfolgt. Es ist keine Politische. So spricht er an diesem Dienstag zwar von Friedensverhandlungen, wirklich aus der Reserve locken lässt er sich allerdings nur, wenn es um das wirtschaftliche Potential geht. Als die palästinensische Tourismusministerin davon spricht, dass der Tourismus ein Instrument zum Frieden sei, trifft dies genau den Ton der deutschen Delegation.

Denn warum sich im Minenfeld der politischen Anforderungen eines Friedensprozesses bewegen, wenn man mit wirtschaftlichen Projekten vorgeben kann das Problem zu bearbeiten. Der Aufstieg des palästinensischen Ministerpräsidenten Salam Fayyad ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Seine Formel des „ökonomischen Friedens“ brachte ihm Ende November sogar einen Platz unter den 100 wichtigsten „globalen Denkern“ bei einem Ranking des US-Magazins Foreign Policy ein. Er habe das Vertrauen in die Technokratie zurückgebracht, hieß es da zur Begründung für seinen 23. Platz.

Dieses Vertrauen ist wichtig, wenn politische Akteure einen Konflikt nicht mehr unmittelbar mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln bearbeiten. Auch viele Medien haben sich diese Sichtweise zu eigen gemacht. In einem Kommentar der Süddeutschen Zeitung vom 30. November 2010 hieß es zur Nahost-Reise Wulffs: „Er muss balancieren auf der Nahtstelle eines Konflikts, den die Mächtigen der Welt nicht lösen können.“ Oder wollen. Denn genauso wie die Fakten schon tausendfach hin- und her gewälzt wurden, genauso gäbe es Lösungsansätze, Wege zu einem dauerhaften Frieden. Doch diese würden politischen Druck erfordern, eine Diplomatie, die nicht bei der Siedlungsfrage endet. Sondern dort erst beginnt.

Palästinensische Demonstranten am 28. Oktober 2010 in Ramallah: "Wir wollen die Nakba nicht noch einmal erleben"

So konzentrieren sich die Akteure also auf die Entwicklung von Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Letztere wird allerdings durch die zahlreichen Geberorganisationen eher geschwächt, indem fähige und vernetzte Kräfte lieber gut bezahlte Posten annehmen, als sich weiter in der Opposition zur Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) zu versuchen. Auch im wirtschaftlichen Bereich gibt es zahlreiche Hilfsansätze, ein besonders hoch geschätzter sind sogenannte „Industriezonen“. Gebiete, die mit Hilfe von Freihandelsabkommen und Steuererleichterungen Investoren anziehen und Arbeitsplätze für die Menschen in den Palästinensischen Gebieten schaffen sollen. Auch Deutschland engagiert sich seit ein paar Jahren dafür sehr stark, ein Industriepark nahe Jenin wird fast ausschließlich mit Geldern der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) finanziert. Allerdings zieht sich das Projekt seit Jahren in die Länge.

Allheilmittel Industriepark

Auf palästinensischer Seite wurde speziell für diese Art von Projekten die Palestinian Industrial Estate und Free Zone Authority (PIEFZA) gegründet. Zu dem Projekt nördlich von Jenin, nahe dem Dorf Al-Jalama, heißt es, es solle eine hoch entwickelte Infrastruktur gebaut werden, um Investitionen aus dem In- und Ausland anzuziehen. Damit sollen Arbeitsplätze geschaffen und die Umwelt geschützt werden. Die Mietkosten seien niedrig und die Rekrutierung qualifizierter Arbeitskräfte einfach. Auf dem Papier also ein wirtschaftlicher und nachhaltiger Ansatz, welcher den Problemen der mangelnden Exportfähigkeit und der hohen Arbeitslosigkeit begegnen soll. Doch dieser erweist sich in der Praxis als untauglich, ja geradezu kontraproduktiv für einen wirtschaftlichen Aufbau und einen echten Frieden zwischen Israel und den Palästinensern.
Israel hat große wirtschaftliche Interessen, die sich mit der Besetzung der Palästinensischen Gebiete verbinden. Gerne wird darauf verwiesen, dass Militärtechnologie ein wichtiger Teil israelischer Exporte ist und die besetzten Gebiete das ideale Versuchslabor unter realen Bedingungen sind. Dies trifft sicherlich in mancher Hinsicht auch zu, doch noch mehr sind die Gebiete zweierlei: ein leicht zu kontrollierender Absatzmarkt und ein nahezu unerschöpflicher Pool an gut ausgebildeten Arbeitskräften. Die Läden im Westjordanland sind voll von israelischen Produkten, auch solche, die eigentlich ohne weiteres vor Ort hergestellt werden könnten. Zwar werden Produkte aus Siedlungen vermehrt boykottiert, doch auch Firmen, die in Israel Wasser aus Quellen von den konfliktträchtigen Golan-Höhen verkaufen, sind in den Regalen vertreten.

Um zu beweisen, dass auch die Palästinenser von der wirtschaftlichen Aktivität Israels profitieren, veröffentlicht die Regierung regelmäßig wohlklingende Statistiken. Doch schon auf den zweiten Blick enttarnen sie gerade die Probleme, welche vor allem im Westjordanland zu finden sind. Seit der Blockade Gazas ist dort ohnehin keine ernsthafte Wirtschaftstätigkeit mehr möglich. Schätzungen der UN gehen davon aus, dass mehr als Zweidrittel des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Gazastreifen durch die Tunnelwirtschaft zwischen dem Küstenabschnitt und Ägypten erbracht wird.

So beziehen sich die Daten dann auch vor allem auf den Markt zwischen Jenin und Hebron. In einer Pressemitteilung der israelischen Regierung heißt es da zum Beispiel: „Der Handel zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde ist im Jahre 2008 um 35 Prozent gestiegen.“ Zum einen sagt die Zahl an sich wenig aus, da im Verlauf der Zweiten Intifada der wirtschaftliche Austausch fast gänzlich zum Erliegen kam und das BIP zwischen 1999 und 2006 um mehr als 40 Prozent zurückging. Zum zweiten wird deutlich, dass es eben keinen funktionierenden Privatsektor in den Palästinensischen Gebieten gibt und dort alles unter politischer Kontrolle der PA steht. Nur die wenigsten profitieren von vermehrter Handelstätigkeit. Profiteure gibt es, sicherlich. In Ramallah, dem politischen Zentrums des Westjordanlands sind moderne Autos der Marken BMW und Mercedes keine Seltenheit. Wenn im Stadtteil Al-Bireh, in dem viele hochrangige Fatah-Mitglieder wohnen, diese zu Terminen chauffiert werden und Soldaten alle 20 Meter am Straßenrand mit automatischen Gewehren Stellung beziehen, dann rasen Konvois von europäischen Luxuslimousinen und amerikanischen SUVs vorbei. Doch wer die falsche politische Linie vertritt, hat keinerlei Zugang zu lukrativen wirtschaftlichen Möglichkeiten.

Weiter heißt es: „Das durchschnittliche Tagesgehalt im Westjordanland ist im Jahr 2008 im Vergleich zum Vorjahr um 24 Prozent gestiegen.“ Deutlicher könnte nicht zum Ausdruck kommen, dass langfristige Arbeitsverträge und die Durchsetzung von Arbeitnehmerrechten für die meisten Palästinenser unerreichbar sind. Denn ein Großteil der einfachen Arbeiter sind Tagelöhner. Verträge oder Absprachen fallen den politischen Bedingungen zum Opfer. Der willkürliche Entzug der Arbeitserlaubnis, die Schließung eines Checkpoints oder das Einbehalten des Lohns stellen für palästinensische Arbeitnehmer, die in Israel ihren Lebensunterhalt verdienen, keine Ausnahmen dar. Die Internationale Arbeitsorganisation ILO hält in einem Arbeitspapier fest, dass die allgemeinen Bedingungen der Arbeiter von ständiger Unsicherheit geprägt seien und es „ein klar umgekehrtes Verhältnis zwischen Abriegelungen und dem palästinensischen Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf“ gebe.

Völlige Abhängigkeit von Israel

Gerade hier sollen die Industriezonen ansetzen, liegen sie doch auf palästinensischem Gebiet und sollen so die oben genannten Probleme vermeiden. Können es aber nicht. Auch nicht die von Deutschland finanzierte Al-Jalameh-Zone im Norden von Jenin. So kontrolliert Israel jegliche Bewegung von Waren und Personen im Westjordanland. Ohne die israelische Erlaubnis etwas zu exportieren, können keine Waren ausgeführt werden. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass jegliche negative Entwicklung auf politischer Ebene alle wirtschaftlichen Entwicklungsansätze zerstören kann. In Gaza zeigte sich dies in aller Schärfe, als die Erez-Industriezone von der israelischen Luftwaffe im Zuge der Operation „Gegossenes Blei“ in Schutt und Asche gebombt wurde. Schon 2007 sagte der in Gaza ansässige Geschäftsmann Ali Abu Shahla in einem Interview mit der Zeitschrift Bitterlemons: „Let me tell you frankly that without an overall political solution no industrial area will succeed. The minute a tank drives through, the industrial areas are finished.”

Auch ein Beispiel aus dem Westjordanland zeigt, wie unfruchtbar jegliche Versuche eine eigenständige palästinensische Wirtschaft aufzubauen sind. Zwischen Ramallah und Jerusalem liegt das Industriegebiet Atarot, in der Nähe des heute stillgelegten Flughafens von Jerusalem. Früher war es Teil der Palästinensischen Gebiete. Doch heute teilt dort an der Hauptstraße die israelische Sperranlage das Areal. Atarot ist damit vom Westjordanland abgeschnitten. Nun wird das Industriegebiet von Israel betrieben und beheimatet hauptsächlich israelische Firmen. Dies ist ein Punkt, der gegen die Zonen, die nahe der grünen Linie errichtet werden, spricht. Gleichzeitig sind Gebiete, die inmitten des Westjordanlands in der Nähe von Städten liegen, noch mehr von der Grenzpolitik Israels abhängig.
Allmorgendliches Gedränge am Checkpoint Qalandiya zwischen Jerusalem und Ramallah

Hinzu kommt, dass palästinensische Geschäftsleute trotz politischer Verbindungen kaum eine Chance haben, eigene Firmen in diesen Zonen aufzubauen. Zu viele Hürden, zu wenig finanzielle Anziehungskraft. Ausländische Investoren sind dann auch das Ziel der Macher, gemeint sind vor allem Israelische. Die können günstige Arbeitskräfte rekrutieren und so die Kosten der eigenen Sicherheitspolitik senken, die entstehen, wenn sie in Israel selbst ansässig bleiben. Die Außenwirtschaftskammer Österreichs schreibt in einer Bewertung vom März 2010: „Leider kann man nicht davon sprechen, dass die bisherigen Projekte von durchschlagendem Erfolg gekrönt waren. Neben der Verzögerung der Projekte lässt auch das Interesse internationaler Investoren zu Wünschen übrig. Die politische Instabilität lässt Investoren trotz Fördermöglichkeiten zögern. Weiters kann die Logistikkette, welche zwangsläufig über israelische Kontrollpunkte läuft, jederzeit durch Grenzsperren unterbrochen werden.“ Israelische Firmen können solche Faktoren durchaus einfacher kalkulieren.

Für den Aufbau einer eigenständigen Wirtschaft in der Hand von Palästinensern sind die Zonen also kaum geeignet. Zudem stellt sich die Frage, ob die Ausrichtung des Konzepts überhaupt zukunftsfähig ist. Die KfW schreibt: „Mit einer Finanzierung zur Erschließung des Industrieparks Jenin sollen arbeitsintensive Industrien gefördert werden.“ Doch ob sich die Herstellung solcher Produkte in dieser Region einmal selbst trägt, wenn die ausländische Fördergelder nicht mehr fließen, ist angesichts der hoch effektiven und leistungsfähigen Konkurrenz aus Asien mehr als fraglich. Dies zeigt sich auch auf dem regionalen Arbeitsmarkt. Schon heute arbeiten in Israel vermehrt Einwanderer mit noch geringeren Ansprüchen an Lohn und Arbeitsschutz, wo ehemals Palästinenser beschäftigt wurden. Auch Beispiele aus vergleichbaren Zonen in Jordanien belegen dies. Der ehemalige Vorstand der Jordan Agency for Enterprise and Investment Development, Yusuf Mansur, sagte dazu schon 2007: „Two thirds of the labor force in the QIZs [Qualified Industrial Zones] is non-Jordanian, mainly from Far Eastern countries. There are virtually no linkages between the QIZs and the rest of the economy. Spillovers in terms of technology and managerial skills transfer are almost non-existent.”

Aus der Sicht palästinensischer Beobachter ist der Sinn und Zweck der Industriezonen ohnehin klar. Sie fürchten eine Okkupation der palästinensischen Wirtschaft unter dem Deckmantel der Öffnung, bei dem israelische Sicherheits- und Gebietsinteressen eine herausragende Rolle spielen. Der palästinensische Geschäftsmann und Blogger Sam Bahour schreibt in einem Gastbeitrag in der Zeitung Haaretz vom November 2010: „The entire undertaking fits well with Israel's policy of separation - a policy that enables Israel to box in the Palestinians while maintaining control of their movements and economic viability.” So könnte also die gesamte palästinensische Wirtschaft "angepasst" werden. Weg von lokaler Landwirtschaft und Tourismus hin zu einer, die bei öffentlichen Dienstleistungen und der Bewegung von Menschen und Waren gänzlich von Israel abhängt. Palästinensische Bauern würden dann endgültig eine selbst bestimmte Landwirtschaft aufgeben und Zuarbeiter einer Agrarindustrie werden. Der ökonomische Umbau könnte auch als Versuch zur Umwandlung der bestehenden israelischen Siedlungsunternehmen gewertet werden. So schreibt Bahour: „This economic reengineering effort in the West Bank can be viewed as an attempt to relocate the scores of Israeli settlement enterprises, which depend on Palestinian cheap labor, to these newly created “Palestinian” zones, thus “legalizing” their existence."

Kein Ersatz für politische Schritte

Den internationalen Gebern ist die Vermischung von wirtschaftlichen und politischen Mittel nicht unangenehm, ja geradezu willkommen. Die KfW drückt es ganz unverblümt aus: „Gesamtziel der deutschen EZ im Schwerpunkt ist es, die palästinensische Wirtschaft leistungsfähiger zu machen und durch die Sicherung von Arbeitsplätzen und Einkommen Armut zu mindern. Dadurch wird auch ein Beitrag zu einer Reduktion der Konfliktbereitschaft geleistet.“ Dass die entwickelte Strategie den eigentlichen Konflikt zementiert, wird nicht erwähnt.

Die Rhetorik ist immer gleich. Die internationale Gemeinschaft unterstütze die Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staates und die Zukunft der Palästinensischen Gebiete sei von einer umfassenden politischen Lösung des Nahostkonflikts abhängig. Geht es um konkrete Schritte, werden eben wirtschaftliche und andere Entwicklungsprojekte ins Spiel gebracht. Doch ohne Frieden keine Entwicklung. Wenn die Bewegungsfreiheit von Waren und Menschen, die Strom- und Wasserversorgung weiterhin israelischer Kontrolle unterliegen dann werden die beschriebenen Projekte scheitern. Ohnehin sind sie ein Schritt in eine neue Abhängigkeit der palästinensischen Wirtschaft. Gerade die Staaten der EU, welche die Freiheit von Waren, Personen und Dienstleistungen sogar gerichtlich einklagen können, sollten diese Lektion leicht verstehen.

Doch es geht wohl nicht um das Verständnis, sondern um die Schlussfolgerungen. Denn die sind schmerzhaft und kompliziert – für alle Beteiligten. Nur ein erhöhter politischer Druck auf die Verhandlungspartner führt zu einer Veränderung. In den Palästinensischen Gebieten müssten demokratische Strukturen gestützt, die Macht der Palästinensischen Autonomiebehörde an den Willen der Bevölkerung rückgebunden werden. Auch wenn dies heißt, die Hamas als Realfaktor der Politik zu akzeptieren und die internationale Gemeinschaft damit einen leicht zu beeinflussenden und zu kontrollierenden Verhandlungspartner verliert. Israel müsste deutlich gemacht werden, dass weitere Verletzungen von UN-Resolutionen und des Völkerrechts nicht mehr akzeptiert werden und das Land mit Folgen rechnen muss - auf diplomatischer und wirtschaftlicher Ebene.

Dies wäre zumindest ein Versuch, der den Begriff „Friedensstrategie“ wirklich verdienen würde. Denn wirtschaftliche Verflechtung mag wohl das Potential haben Frieden zu sichern, doch nicht ihn zu schaffen.



Quellen und Literatur

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